Gruppe GegenSatz Marburg

Konsum, Konsument und Konsumentenmacht im Kapitalismus

Die folgenden Texte sind verschiedenen Ausgaben der Zeitschriften "GegenStandpunkt" und "MSZ" entnommen. Verweise auf die beim GegenStandpunkt-Verlag verfügbaren Quelldateien finden sich am Ende dieser Broschüre.

1. Ideologien über Konsum und Konsument in der Marktwirtschaft

1.1 Über die Rolle des Konsums
und des Konsumenten im Kapitalismus

Die Veredelung des Kapitalismus zur "Wohlstandsgesellschaft" und der Einsatz der "Konsumentenmacht" gegen die "Überflussgesellschaft" und ihre "Auswüchse":

Vorbemerkung zur objektiven Rolle des Konsums im Kapitalismus

Über den Konsum sind merkwürdige, aber aufschlussreiche Meldungen im Umlauf. Des öfteren muss er beispielsweise "angekurbelt" werden. Konsum wird tatsächlich gefordert, damit das Wachstum in Gang kommt. Das sagt schon viel. Im Kapitalismus ist die Versorgung offenbar nicht Zweck, die Produktion das Mittel, um die gewünschten Güter des Bedarfs zu liefern. Umgekehrt, der konsumtive Bedarf ist das Mittel, um den Zweck Wachstum in den Unternehmen voranzubringen. Als Anschub kommt eine Größe deswegen auf keinen Fall in Betracht: das Einkommen der arbeitenden Menschheit, das über die Fähigkeit zum Konsumieren und den Umfang des Absatzes am Warenmarkt der Verbrauchsartikel entscheidet. Stattdessen werden lieber Konsumklima und Kauflaune gepflegt und der Verbraucher mit Optimismus statt Krisengerede versorgt, damit er seine Ersparnisse oder einen Kredit für zusätzliche Anschaffungen strapaziert. Das ist nämlich ein bilanzunschädlicher Beitrag des Konsums zum Wachstum.

Der Grund für solche Merkwürdigkeiten liegt in der gültigen kapitalistischen Rechnungsweise der Unternehmen. Das Einkommen der Leute ist auf dem Markt als Realisierungsmittel für den Umsatz der Waren gefragt und kann in dieser Hinsicht gar nicht groß genug sein. Andererseits ist dasselbe Einkommen in der betrieblichen Bilanz Lohnkost, nötige Verausgabung für den Gewinn, die ihn zugleich schmälerrt und daher möglichst knapp bemessen wird. Dass die Beschäftigten mehr geldwerte Leistung abliefern als sie selber kosten, ist die Einstellungsvoraussetzung an jedem Arbeitsplatz. Der Konsum ist daher nicht nur eine beschränkte Größe, für den beanspruchten Warenumsatz immer zu klein dimensioniert. Er ist auch ein den Gewinn beschränkender Faktor, dessen Anhebung für mehr Umsatz nicht in Frage kommt.

Voran kommt das Wachstum dennoch. Nicht nur, weil die Vorschüsse von Kapitalisten jenseits des Faktors Lohn sowie ihr eigener gehobener Konsum das Ihre zur Nachfrage beitragen. Mit dem Kredit machen sie sich auch noch von Schranken des Marktes frei, um ihr Wachstum zu finanzieren. Diese betriebliche Rechnung, der das Einkommen unterliegt, bestimmt überhaupt den gesamten Zweck kapitalistischen Wirtschaftens. Was, wie und wie viel produziert wird, entscheidet sich ebenso wie Qualität und Preis des Produkts an der Gewinnkalkulation. Die Kosten des Aufwands für jedes Produkt müssen einen Überschuss einspielen.

In dieser Akkumulation von Geldreichtum ist die Versorgung der Beschäftigen ein Moment, das eingebannt bleibt in die engen Grenzen einer bloßen Reproduktion ihres Arbeitsvermögens. Auch ohne Marx-Lektüre hält sich diese Wirtschaft an das Prinzip, dass Arbeit nicht reich macht, sondern - bestenfalls - die Lebenshaltungskosten einbringt. Der Konsum ist in jeder Hinsicht abhängige Variable der kapitalistischen Produktion. Sie definiert nicht nur Umfang, Art und Preis der Güter, sondern auch das Einkommen der Verbraucher, das sie überhaupt nur zum Konsum befähigt.

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Bei der Gestaltung seiner Konsumtion genießt der Mensch natürlich jede erdenkliche Freiheit. Er kann zwischen Waren derselben oder verschiedener Art wählen und sie nach Qualität oder Design vergleichen. Er ist sogar die alleinige Instanz, die über den Kaufakt entscheidet. Freilich unter den Vorgaben, die ihm auf der einen Seite durch eigene Notwendigkeiten und das Sortiment der Anbieter, auf der anderen Seite durch die Warenpreise und seinen Geldbeutel diktiert sind. Manche Alternative im Warenangebot gerät daher zu einer des Verzichts. Entweder der Urlaub, oder das neue Auto. Für größere Anschaffungen ist der Konsument so frei zu sparen: Verzicht heute für den Konsum von morgen.

Wem das nicht schmeckt, kann seine Freiheit auch in umgekehrter Richtung in Anschlag bringen und mit einem Kredit einkaufen: Konsum heute, Verzicht morgen, denn zurück gezahlt werden muss ja auch. Und am Ende aller Rechnungen und Berechnungen steht eine für den Urheber dieses Rechnungswesens glückliche Fügung, die dem Konsumenten seine Freiheit wie sein Problem erhält: Das verausgabte Einkommen ist in die Kassen derer zurückgeflossen, die es so kleinlich bewirtschaften und für ihren Gewinn erneut vorschießen. Der Kreislauf kann von vorne beginnen, der des Kapitals wie der des Konsumenten, der sich mit seiner Arbeit von Neuem ein Einkommen verdienen muss, das ihn bestenfalls instand setzt, wieder in die Arbeit zu gehen, sich also zu reproduzieren.

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Zur Privatsphäre von Konsum und Genuss denkt sich der Konsument natürlich auch noch sein Teil. Mit all seinem Vergleichen und Wählen in der Warenwelt entscheidet er eigentlich nur eines, nämlich sich. Das aber liest er in dichterischer Freiheit so, dass er es ist, der entscheidet. Ausgerechnet die abhängige Variable der ganzen kapitalistischen Produktion bildet sich ein, der Herr des Verfahrens zu sein, dem alles Wirtschaften dient. Bei diesem schlichten, aber falschen Selbstbewusstsein gewöhnlicher "Verbraucher" hätte es vermutlich sein Bewenden, würden nicht öffentlichkeit und wissenschaftliche Experten mit ihren mehr oder weniger elaborierten Beiträgen das Ihre zur phantasievollen Schönfärberei beisteuern und sie gehörig fortentwickeln.

Dabei ist die ideologische Absicht so hart gesotten, dass sie sich auch von der jedermann zugänglichen gegenteiligen Erfahrung nicht bremsen lässt. Seit ein oder zwei Jahrzehnten widmen sich Journalisten wie Sozialwissenschaftler öffentlich einer wachsenden Kinderarmut im Land und zählen die steigende Zahl von Hartz IV-Empfängern zusammen. Die "Tafeln" zur Armenspeisung begrüßen sie als innovative Wege im Kampf gegen das Verfallsdatum von Nahrungsmitteln. Genügend Hungerleider gibt es ja inzwischen in jeder Großstadt, die dankbar sind für diesen Akt großherziger Entsorgung von Produkten jenseits des Ablaufdatums. Und gleichzeitig halten dieselben Leute ihre Legende von der "Wohlstandsgesellschaft" ungerührt in Kraft, in der wir alle leben und die Otto-Normalverbraucher sogar zum "König Kunden" befördern soll.

Eine Kritik am Konsum gibt es aber auch noch. Allerdings nicht an seiner schäbigen Verfassung, sondern an einem Zuviel davon. Unversehens finden sich Menschen, die nicht recht wissen, wie sie mit ihrem Einkommen über die Runden kommen sollen, in einer "Überflussgesellschaft" wieder. Und je nach moralischem Sensorium werden dem Überfluss auch noch Wirkungen zugeschrieben, die das Verantwortungsbewusstsein moderner Konsumenten auf den Plan rufen sollen. Dioxin in Lebensmitteln, durch Pestizide vergiftete Landarbeiter, Kinderarbeit in der Dritten Welt, Klimabelastungen durch den globalen Warentransport: Das sind Missstände, bei denen der Konsument sich besinnen soll. Leider nicht auf Zweck und Charakter einer Produktion, die so etwas hervorbringt, sondern auf sich und seine "Konsumentenmacht". Weil er per Einkauf "am System" beteiligt ist, soll er seinen Konsum für die Ursache dieser Übel halten und sie wiederum per Einkauf korrigieren.

Das ist praktisch wirkungslos und theoretisch ebenso verfehlt wie die zitierten Varianten von Lob und Tadel an der "Konsumgesellschaft". Das verdient eine Begründung.

"Wohlstandsgesellschaft": Funktionelle Notwendigkeiten als Ausweis guten Lebens

Die Verfechter dieses Lobs attestieren dieser Wirtschaftsweise, dass es in ihr um die Herstellung nützlicher Güter für eine gediegene und genussvolle Lebensführung geht, um einen materiellen Reichtum eben, der den Namen Wohlstand verdient und im Prinzip allen Mitgliedern der Gesellschaft verfügbar gemacht wird. Das ergibt das Bild von der "Wohlstandsgesellschaft". Das Geld und seine Vermehrung, um das sich die kapitalistische Konkurrenz wirklich dreht, nehmen die Schöpfer dieses Bildes nur verkehrt zur Kenntnis, nämlich so, dass Geld eben den materiellen Reichtum beziffert und den Zugang zu ihm eröffnet, also Mittel für die Herstellung und Verteilung der Produktionsergebnisse sei.

Natürlich nur für die, die Geld haben. Wer keines hat, muss einen Unternehmer finden, den er mit seiner Arbeitskraft bereichert. Ob das gelingt, ist fraglich und hängt vom Gewinnkalkül der Firmen ab. Millionen Mitglieder der Wohlstandsgesellschaft sind ohne Arbeit und Einkommen. Wenn das gelingt, definiert der Betriebszweck Gewinn, was aus dem Bemühen Minderbemittelter um ihren Gelderwerb wird. Ein knapp kalkulierter Lohn nämlich, von dem der Mensch vielleicht leben kann, von dem aber niemand wirklich leben möchte. Der Seufzer jedenfalls, dass es die eigenen Kinder einmal besser haben mögen, ist in proletarischen Haushalten bis heute nicht ausgestorben.

Geld ist eben nicht hilfreiches Mittel für den Zugang zu den schönen Dingen des Lebens, sondern Zweck kapitalistischen Wirtschaftens. Seine Vermehrung durch die Arbeit Eigentumsloser ist Ziel und Kriterium ihrer Benutzung, und mit dem Lohn werden sie auf die pure Erhaltung ihrer Lohnarbeiterexistenz festgelegt, also vom wachsenden Reichtum ausgeschlossen, den sie produzieren müssen. Das sieht man auch den Utensilien eines modernen Arbeitnehmerhaushaltes an, die für gewöhnlich als Beweisstücke für den Wohlstand des Normalverbrauchers aufmarschieren.

Unbestreitbar, dem modernen Arbeitnehmer steht heute eine Palette von Gütern zu Gebote, die es in den Anfängen der "Industriegesellschaft" noch gar nicht gab, schon gar nicht für Arbeiter. Zu bestreiten ist allerdings, dass dieser Umstand den Ehrentitel "Wohlstandsgesellschaft" rechtfertigt, mit dem sich der Kapitalismus seit mehr als einem halben Jahrhundert schmückt. Automobil, Gefrierschrank oder Plasmafernseher, die in Arbeiterhaushalten gesichtet werden, müssen als Beweisstücke herhalten. Als wäre eine mobile Arbeiterbevölkerung, die den räumlich wie zeitlich flexiblen Einsatz in "atmenden Unternehmen" abzuleisten hat, ohne fahrbaren Untersatz zu haben. Das schmale Zeitfenster, das nach einem aufreibenden Arbeitstag für die Erledigung der Ernährungsfrage noch bleibt, verlangt zwecks Zeitersparnis nach Vorratshaltung, die ohne Kühl- und andere technische Geräte nicht auskommt.

Dass die zu erbringende Leistung an einem modernen Arbeitsplatz seinen Inhaber schafft, ohne dass deswegen ein fürstliches Entgelt winkt, trifft sich hervorragend mit den Angeboten der Industrie für Unterhaltungselektronik. Der Fernseher füllt nämlich den marginalen Rest an Erholungszeit optimal, der nach Erledigung der Notwendigkeiten der Reproduktion für den nächsten Arbeitstag noch verbleibt. Erstens ist das Heimkino im Vergleich zu aushäusigen kulturellen Großtaten zeitsparend. Zweitens überfordert der passive Konsum bewegter Bilder nicht den Restposten an Kondition und Aufmerksamkeit, den die Leistungsbeanspruchung am Arbeitsplatz allenfalls übrig lässt. Und drittens ist die Sache auch noch erheblich billiger als Bayreuth oder Berlinale und damit dem bescheidenen Salär eines Lohnempfängers angemessen. Die Größen Zeit, Leistung und Geld, aus denen die Zwänge des Lohnarbeiterdaseins komponiert sind, werden hier also von einer Branche geschäftstüchtig ins Visier genommen.

Falsch ist das Lob der Wohlstandsgesellschaft eben darin, dass es pure Notwendigkeiten für die Erfüllung von Funktionen eines Arbeitnehmerdaseins mit dem Siegel des guten Lebens versieht. Sicher, auch solche Güter, die einstmals zu den Luxusartikeln gehörten wie etwa der gute Lachs, haben heute ihren Weg in den Warenkorb gewöhnlicher Arbeitnehmer gefunden. Aber was beweist das schon? Eigentlich nur dies: Die Produktivität der Arbeit ist so gewaltig vorangekommen, dass ein Kilogramm Edelfisch in immer weniger Lohnminuten herzustellen geht und die Lebensmittelindustrie deswegen auch noch proletarische Einkommen für die Erzielung gewinnbringender Preise in diesem Warensegment ausnutzen kann.

Nur eines leistet der Produktivitätszuwachs in dieser Gesellschaft nicht: Weniger Arbeitszeit für die Herstellung von immer mehr und neuen Produkten führt nicht zu einem Gewinn an freier Zeit für den Arbeiter bei gleichzeitig besserer Versorgung. Nach wie vor müssen moderne Arbeitnehmer um die vierzig Stunden Leistung pro Woche abliefern für einen Lohn, der für viele das Notwendige nicht einmal hergibt und ihre Einteilungskünste herausfordert. Der Vorteil gewachsener Produktivität liegt eben ganz einseitig auf Seiten nicht der arbeitenden, sondern der unternehmenden Menschheit. Kapitalistisches Wachstum und Wohlstand aller sind also nicht zu verwechseln.

"Der Kunde ist König": alles im Griff

Davon wollen allerdings die Schönredner der besten aller Welten nichts wissen. Mit der Kunstfigur des Königs, die in jedem Kunden steckt, setzen sie auf die Legende von der "Wohlstandsgesellschaft" noch eins drauf. Mit dem reichhaltigen Warenangebot des Kapitals soll sich der Mensch nicht nur gut bedient sehen, die herrschaftliche Metaphorik präsentiert den Kunden sogar als den eigentlichen Herrn der Produktion. Er bestimmt ihren Inhalt und ihre Richtung, das Was, Wie und Wieviel. Mit Anleihen bei der Volkswirtschaftslehre wird der Kaufakt als Abstimmungsverfahren gedeutet, bei dem die Kunden mit Hilfe ihrer Geldscheine Signale setzen und Weichen stellen für das in Zukunft Gewünschte an Produkten und Dienstleistungen.

Das geht dann doch an der Wirklichkeit vorbei. Zunächst greift die Metapher vom Herrn, der in jedem Kunden steckt, ganz grundsätzlich zu hoch, weil der Herr zuvor in der Rolle des Knechts tätig gewesen sein muss, der sich zum Diener für die Geldvermehrung anderer hergibt, weil er selber kein Geld hat, also welches verdienen muss. Erst dann kann er mit seinen Geldscheinen Kaufakte tätigen. Und die werden von Sachverständigen im Nachgang als Abstimmungsverfahren interpretiert, in denen sich Bedürfnisse zu Wort melden, um der Produktion ihre Zielgrößen vorzubuchstabieren. Dabei läuft die genannte Teilnahmebedingung dem behaupteten Zweck des Verfahrens zuwider. Nicht der Bedarf, sondern nur der kaufkräftige Bedarf zählt.

Elementare Bedürfnisse wie das nach Wohnraum bleiben auf der Strecke, wo das Geld fehlt, und abwegigste Bedürfnisse wie das nach Genitalschmuck oder einem handgefertigten Maserati kommen zum Zug, sofern sie bei Kasse sind. Der Bedarf in der rein sachlichen Bedeutung des Wortes ist also nicht Ziel, sondern Mittel, und zwar für den gewinnbringenden Absatz des Warenangebots. Deswegen kommt es ja auf die einschränkende Bedingung - zahlungsfähig! - entscheidend an. Einmal mit Kaufkraft ausgestattet, ist der Konsument dann tatsächlich eine Figur, die sich wie der King fühlen darf, weil sie von der Welt des großen Kommerzes wichtig genommen wird. Mit aufwendiger Werbung umschmeichelt die Geschäftswelt den Kunden, aber nicht, weil sie dessen Nutzen, sondern das an ihm Ausnutzbare im Blick hat, seine Kaufkraft nämlich. Dabei lässt sich dem Umstand, dass große Unternehmen, die schon über ihre enorm hohen Produktionskosten klagen, immer noch immense Summen für die Werbeindustrie übrig haben, einiges entnehmen.

Erstens nämlich dieses: Für die Versilberung des reichhaltigen Warenangebots der diversen Anbieter ist die Kaufkraft der Kunden eine arg beschränkte Größe, die gar nicht für alle den verlangten Umsatz und Gewinn hergibt. Gerade deswegen tobt ja mit den Finessen der Werbung ein Kampf um diese Kaufkraft, um sie in die eigenen Kassen zu lenken. Auch nicht gerade ein Tatbestand, der die Legende von der Wohlstandsgesellschaft haltbarer macht: Gemessen am wachsenden Warenreichtum der Verbrauchsartikel ist die finanzielle Zugangsmacht in den Händen derer, die das alles in den Fabriken hergestellt haben, einfach zu bescheiden. Und der gewaltige Aufwand, der nicht nur mittels Werbung, sondern durch die Erfindung immer neuer Produkte und moderner Designs Moden bestimmen oder Trends setzen will, belegt ein Weiteres: Die Bedürfnisse sind gar nicht die autonome Größe, die der Produktion Art und Menge gewünschter Güter vorgibt, wie das in der Metapher vom König Kunden impliziert ist. Umgekehrt: Die Bedürfnisse sind ihrem Inhalt nach weitgehend durch das Universum einer Warenwelt bestimmt, mit der Unternehmen um die Kaufkraft potenzieller Kunden kämpfen. Die moderne Lebensmittelchemie bringt es mit Geschmacksverstärkern, Ersatzstoffen oder Light-Produkten zu innovativen Lebensmitteln, die IT-Branche mit Handy oder iPod zu physikalisch-technischen Neuheiten, von denen sich Verbraucher vorher nichts haben träumen lassen. Jetzt sind sie da, neu geweckte und definierte Bedürfnisse, leider nicht, um sie zu bedienen, sondern um sie zur Kasse zu bitten.

Hinsichtlich der Kasse hapert es natürlich beim großen Publikum. Aber auch das stürzt die Geschäftswelt nicht unbedingt in eine Verlegenheit. Eher schon den König Kunden, nicht weil er ignoriert, sondern weil er bedient wird. Mit einem Produkt nämlich, das genauso fadenscheinig wie seine Kaufkraft ist, für die es extra maßgeschneidert wird. Das führt beispielsweise in der Kunst des Automobilbaus zu der interessanten Frage: Wieviel Auto kann man für 3000 € bauen? Warum angesichts der breiten Palette von Kraftfahrzeugen mit allem Komfort und gediegener Sicherheitstechnik auch noch die 3000-€-Billig-Version her muss, ist kein Geheimnis. Hier wird bei Tata oder VW nicht aus dem Aufwand für die Herstellung eines nützlichen Dings der gewinnbringende Preis deduziert. Umgekehrt, aus dem am Markt anvisierten und abzuräumenden Kaufkraftniveau leiten Konzerne und ihre Ingenieure die unbedingt notwendigen und vor allen Dingen verzichtbaren Eigenschaften des Gebrauchswerts her, damit auch das große Kundensegment mit minderbemitteltem Lohneinkommen für den gewinnbringenden Verkauf der abgespeckten Billigkutschen ausgenutzt werden kann.

Nur die Ideologie vom Kunden, der König ist, stellt die Welt auf den Kopf: Für jeden etwas dabei! Auch die Wünsche der kleinsten Leute werden, dem Markt sei Dank, in der großen Produktion erhört. Als wäre diesem Bedürfnis nicht anzusehen, dass es kein frei gewähltes, sondern wesentlich ein durch die kapitalistische Benutzung und Entlohnung geformtes darstellt.

Dabei gestehen die Erfinder der Kunstfigur "König Kunde" am Ende auch noch unfreiwillig ein, was sie da für eine Lachnummer in die Welt gesetzt haben. Verbraucherzentralen und Kundenberatung geben in Testheften Tipps, wie sich Kunden vor dem offenbar allgegenwärtigen Ausschuss in den Angebotsregalen schätzen können. Internet-Seiten zum Preisvergleich müssen sein, damit der König nicht von jedem Idioten über den Tisch gezogen wird. Eine Verpackungs- und Etikettierungsverordnung muss wenigstens im Kleingedruckten Hinweise geben, mit welchen chemischen oder gentechnischen Angriffen sein Organismus womöglich nach Verzehr konfrontiert werden könnte. Kurzum, der moderne Verbraucher sieht sich umstellt von einer Horde konkurrierender Geschäftsleute, die nicht nur über seinen Geldbeutel, sondern mit ihren diversen Produkten auch noch über seine Sicherheit und Gesundheit herfallen.

Unternehmen, die um diese Art der aufklärenden Kundenbetreuung natürlich wissen, machen sie gleich zu einer neuen Verkaufsstrategie: "Ich bin doch nicht blöd!" - so setzt sich ein Betrieb für Unterhaltungselektronik vom Rest der Konkurrenten ab mit dem interessanten Verweis, in diesem Unternehmen würde der Kunde nicht für dumm verkauft. Man kennt ja die Branche, in der man reüssieren will.

Die "Überflussgesellschaft" und ihre "Auswüchse"

Es ist nicht beim Lob des Konsums geblieben. Auch eine Kritik daran ist unter modernen Bürgern verbreitet. Sie gilt leider nicht seiner schäbigen Verfassung, sondern einem angeblichen Zuviel davon: "Überflussgesellschaft". Interessant ist, wo dieser Überfluss gesichtet wird. Nicht in den Etablissements von Boris Becker, Josef Ackermann und den anderen Reichen, sondern im Haushalt Normalsterblicher, denen im Namen wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit seit Jahrzehnten eine Lohnsenkung nach der anderen offeriert wird.

Aber der aufgeklärte Konsument weiß die Kürzung seines Lebensstandards mit dem Zugewinn einer neuen Einsicht wegzustecken, die aufhorchen lässt: "Vieles braucht man einfach nicht!" Nämlich ungefähr das, was einem genommen wird: Muss es wirklich ein eigenes Auto sein oder tut es nicht auch eine Fahrgemeinschaft? Ist die Urlaubsreise nicht auch durch den heimischen Balkon zu ersetzen? Selbst die Ernährungsgewohnheiten eines ganzen arbeitenden Volkes werden von solchen Erwägungen nicht verschont, und der Fleischverzehr in der Woche wird wieder zu einer verzichtbaren, weil überflüssigen Angelegenheit. Alle sachlichen Güter eines guten Lebens sind reichhaltig vorhanden, aber eben für das Gros nicht verfügbar, weil sie ihnen als Warenreichtum gegenüberstehen, von dem sie mangels Finanzkraft ausgeschlossen sind.

Und in einer solchen Welt, die alle Mittel des Genusses bereitstellen könnte, wird die arbeitende Bevölkerung auf den harten Maßstab des existenziell Unverzichtbaren, des Brauchens eben, festgenagelt. Die allgemeine Akzeptanz, die diese Sicht der Dinge gefunden hat, belegt ein weiteres Mal, dass mehr als die pure Notwendigkeit in Versorgungsdingen nie vorgesehen und auch nie verlangt war. Wohlstand ist es jedenfalls nicht, der da einbehalten werden soll, wenn vermeintlicher Überfluss abgebaut wird.

Es ist nicht dabei geblieben, den angeblichen Überfluss im Warenkorb gewöhnlicher Konsumenten als verzichtbare Größe zu deklarieren. Diese Größe wird zusätzlich und sehr grundsätzlich für viele Übel in der Welt der Marktwirtschaft verantwortlich gemacht. Kommt nämlich ans Licht, dass die Fußbälle großer Sportartikelfirmen ein Produkt südostasiatischer Kinderarbeit sind, Pestizide in Bioprodukten nicht nur das Gemüse, sondern auch die Tagelöhner auf marokkanischen Plantagen und das Trinkwasser der Region ruinieren oder gar die CO2-Emission eines ausufernden Warentransports zu Land und zu Wasser den blauen Planeten und sein Klima erwärmt, dann entdecken normale und alternative Meinungsbildner Verantwortungslosigkeit und Ausbeutung.

Zielsicher zunächst natürlich da, wo der betreffende Staat schon aus anderen Gründen in Misskredit geraten ist. Während die Menschenschinderei bei braven Zulieferern aus Asien oder Südamerika mit mildem Tadel davon kommt, sofern sie überhaupt Erwöhnung findet, hat derselbe Vorgang bei Staaten wie China, Venezuela oder Sudan immer das Zeug zum Skandal. Damit ist die Liste der Verursacher aber nicht fertig: Wer - fragt man - ermöglicht den Menschenschindern und Umweltsündern denn ihre verantwortungslose Raffgier? Natürlich der Konsument, der ihnen die Produkte ihrer miesen Geschäftemacherei abkauft; genaugenommen insbesondere der arme Konsument, der sich gescheite Produkte mit ordentlicher Qualität nicht leisten kann und dennoch bedient werden will. Er muss sich nicht wundern, dass seine - auf anständige Weise gar nicht zu befriedigende - Nachfrage von unverantwortlichen Produzenten zu unverantwortlichen Geschäften genutzt wird.

Immer mehr, billiger, schneller, weiter - mit solchen Komparativen wird einem Übermaß an Produktion und Versorgung zur Last gelegt, was in Wirklichkeit aus ihrem Prinzip folgt. Kinderarbeit und Tagelöhner sind billig, Pestizide steigern den Ernteertrag und der weltumspannende Transport gefertigter Waren erschließt Märkte und Kaufkraft. Nun aber heißt es plötzlich Ausbeutung. Die findet zwar im täglichen Normalbetrieb längst statt, der unbeanstandet durchgeht und deswegen auch nicht so heißt. Hier aber ist das Unwort fällig, weil bei den zitierten Fällen die rechtlichen und moralischen Grenzen nach dem Geschmack des Publikums verletzt werden, innerhalb derer Ausbeutung gar nicht so heißt. Das, aber auch nur das, gilt als Skandal.

Die "Konsumentenmacht" schlägt zurück

Die allgemeine Überraschung, mit der die Konsumenten von besagten Skandalen Kenntnis nehmen, ist eine einzige Widerlegung der gepflegten Vorstellung, der Kunde als König habe die Richtlinienkompetenz über das Treiben in den kapitalistischen Firmen. Nichts von dem, was ihn nun empört, hat er gewusst, geschweige denn bestellt. Als Marktteilnehmer ist er ganz die abhängige Variable, nicht nur im Hinblick auf das verfügbare Einkommen, das ihm die Firmenkalkulation lässt, sondern auch in Bezug auf Qualität und Herstellungsprozess der feilgebotenen Ware. Alles, was sich das Etikett "Auswuchs" zuzieht, gehört natürlich für einen verantwortungsbewussten Verbraucher bekämpft.

Das beginnt bei der eigenen Gesundheit, die man vor den Eskapaden der Lebensmittelindustrie schützen muss, macht aber auch vor dem ausgreifenden Schritt zur Verantwortung für den ganzen Rest der Welt nicht halt. Am Ende müssen auch noch Klima und Gerechtigkeit in der Dritten Welt durch ein verantwortungsbewusstes Verbraucherverhalten gerettet werden. Dazu besinnt er sich auf seine "Konsumentenmacht". Was immer nach dem Urteil des Publikums in den Betrieben schief läuft, es wird repariert. Merkwürdigerweise nicht mit einer Veränderung der Produktion, sondern der Konsumtion. Ein ethisch wertvoller Einkaufszettel meidet die falschen Fünfziger und lässt sich auch beim Preis nicht lumpen, wenn er in die Kassen der Richtigen fließt.

Durchgesetzter Standard beim gehobenen Publikum ist selbstverständlich der Einkauf nur von Bioprodukten, weil diverse Skandale um BSE, Gammelfleisch und Salmonelleneier der großen Supermarktketten und Discounter bis heute nachwirken. Auch das gilt als Triumph gelebter Konsumentenmacht. Dass "gesunde Ernährung" überhaupt zum speziellen Label der Lebensmittelproduktion werden konnte, spricht schon Bände. Die Selbstverständlichkeit, dass Nahrungsmittel der Gesundheit zu- statt abträglich sein sollten, ist im Kapitalismus offenbar keine. Aber gegen einen gewissen Aufpreis soll sie käuflich sein, in Biomärkten angeblich. Der Appell an Gesundheitsbewusstsein und Gewissen der Konsumenten leidet freilich schon daran, dass den meisten die nötige Kaufkraft dafür nicht zu Gebote steht. Ihr Lohneinkommen wird nämlich von eben der Sorte Unternehmertum so kärglich bestückt, das auf der anderen Seite den Markt mit wenig zuträglichen Lebensmitteln beliefert.

Dennoch, das ethische Bewusstsein vom gesunden Leben und verantwortungsvollen Konsum, das auf die schäbigen Wirkungen der kapitalistischen Produktion antwortet, ist auch bei den Massen zunehmend angesagt. Es lässt sich im Gegenzug daher doch auch als Geschäftsmittel für eben diese Industrie ausnützen. Diesen Markt lassen sich die großen Supermarktketten jedenfalls nicht entgehen und staffieren ihre Verkaufsflächen mit Bioregalen in großem Stil aus. Ein ordentlicher Gewinn aus der beschränkten Kaufkraft der angesprochenen Klientel lässt sich selbst im Biosegment herauswirtschaften, wenn nur die Kosten entsprechend gesenkt werden. Also kaufen Bio-Produzenten neuerdings in der Ukraine Hühnerfutter auf, das sich mit seinem sensationell günstigen Preis wohltuend in der Bilanz und mit seinem Dioxin weniger zuträglich in Bio-Eiern bemerkbar macht. So kommt es auch, dass die größten Anbieter von Biogemüsen ihre Produkte von spottbilligen Tagelöhnern in Marokko fertigen lassen und mit dem enormen Wasserverbrauch ihrer Plantagen die ortsansässige Bevölkerung um bezahlbares Trinkwasser bringen.

Wer es etwa mit dem Klima hält - ein anderes Beispiel - und die Verbesserung seiner privaten CO2-Bilanz zum Dreh- und Angelpunkt verantwortungsvoller Konsumtion erhebt, verzehrt im Norden ab sofort keinen Spargel mehr aus mediterranen Ländern, weil der wegen seines langen Transportweges zuviel Kohlendioxyd auf dem Kerbholz hat. Stattdessen empfiehlt sich der Kauf beim heimischen Spargelbauern, der das Konsumentengewissen von jeder CO2-Belastung frei hält. Jedenfalls, was den Transport des Produktes angeht. Sein Geschäftsmodell jagt stattdessen Massen von osteuropäischen Wanderarbeitern mit ihren CO2-Schleudern über die Autobahnen, damit sie für einen Hungerlohn die Ernte einbringen. Ganz abgesehen davon, ob der Skandal nun mehr in den massiven Rückständen von Verbrennungsmotoren oder in der schlechten Behandlung der Humanressource anzusiedeln wäre: Es ist offenbar gar nicht so einfach, als Konsument eine geschäftliche Rechnung zu durchkreuzen, die man nicht angreifen will.

Manch einer sieht seinen Sinn für Gerechtigkeit herausgefordert, wenn er hinter den Logos der großen Kaffeeröster die Armut der südamerikanischen Plantagenarbeiter entdeckt, die ihre Kaffeebohnen für ein paar Pesos an die großen Aufkäufer abliefern. Bei "Fair Trade" schlägt die Konsumentenmacht dann in aller Härte zu - und zahlt freiwillig ein, zwei Euro mehr für das Kilo, um dem Markt einmal zu zeigen, wie ein fairer Preis wirklich aussieht. Was solche Konsumenten einfach übersehen, ist die Tatsache, dass der Preis im gelobten "freien Spiel der Marktkräfte" mit Fairness nicht vereinbar ist. Der Verkäufer will einen hohen, keinen fairen Preis erzielen. Ebenso wenig der Käufer, der an niedrigen statt fairen Preisen interessiert ist. Wer am längeren Hebel sitzt, setzt sich in diesem Kräftemessen durch.

So werden Gewinne erzielt, oder auch Verluste. Preise sind eben nicht dazu da, einen Ausgleich herbeizuführen, der die gegensätzlichen Interessen der beiden Marktteilnehmer versöhnt und jedem seinen Erfolg verschafft. Es hilft nichts, hier mit gutem Beispiel voranzugehen, weil das Beispiel nicht auf die Sache passt, der man es vorhalten möchte. Es ist schon fast eine Ironie, den freiwilligen Verzicht Gutmeinender, die ein paar Euro mehr für ihren Kaffee hinblättern, als Exempel praktizierter Konsumentenmacht vorzustellen. Denn der als unfair gebrandmarkten Praxis der großkonzerne wird ja kein Haar gekrümmt. Sie wird nicht ersetzt, sondern ergänzt, eben um ein Nischengeschäft, das auf der Spendenbereitschaft einiger Kunden aufbaut und damit entsteht und vergeht.

Solche Beispiele zeugen von einem Prinzip, und das besteht in dem Fehler, der der Idee der Konsumentenmacht innewohnt: Ohne den Kaufakt durch den Verbraucher kann der Unternehmer seinen Gewinn nicht einspielen; also hat jener mit dem Kaufakt das Unternehmen in der Hand, weil man mit dem Wechsel des Anbieters eine Erpressung zum guten Benehmen auf den Weg bringt, die für den ganzen Rest der Branche erzieherische Wirkung entfaltet. Aus der Bedingung für den Unternehmenserfolg, dem Kauf der Ware, wird der Grund für die Unternehmensstrategie und ihre Beeinflussung. Eine Verwechslung, die sich rächt. Einem in Misskredit geratenen Unternehmen wird der Kaufakt ja nur dadurch verweigert, dass der Konsument ihn einem anderen Unternehmen zuspricht.

Das mag eine Wirkung haben, aber keinesfalls die, welche die Konsumentenmacht von sich behauptet. Auf diese Weise kann der Umsatz des einen Betriebs leiden, der der anderen wächst aus demselben Grund. Mit diesem Wechsel der Kaufentscheidung hat sich der Konsument ja ganz innerhalb des Spielfeldes bewegt, das die vielen beklagten Auswüchse überhaupt erst hervorbringt. Dieselbe Geldrechnung, die der Grund für die hässlichen Folgen war, kann nicht zugleich das Heilmittel dagegen sein.

Dass die Freunde der Konsumentenmacht von diesem Widerspruch keine Kenntnis nehmen wollen, rührt daher, dass sie eben auch gar nicht im Geschäft, sondern im verantwortungslosen Geschäft ihren Feind wähnen. Für sie zerfällt die Welt des Kommerzes in gute und böse Unternehmen, in solche, die moralisch handeln, und andere, die es an dieser Gesinnung fehlen lassen. Gegen den Profit haben sie gar nichts einzuwenden, gegen die Profitgier aber sehr wohl. Und mit dieser Sicht der Dinge widerfährt der kapitalistischen Rechnungsweise in den Betrieben eine Ehrenrettung, die sie nicht verdient hat.

Auf diese Weise wird nämlich nicht die Gewinnkalkulation, sondern eine überzogene oder verantwortungslose Stellung zu ihr für alle Übel verantwortlich gemacht. Man muss aber gar nicht als Unternehmer von bösen Absichten getragen sein, um die Hälfte der Belegschaft zu feuern oder schwarze Tagelöhner mit einem Billiglohn abzuspeisen. So etwas ist ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft, die hierzulande gilt. Mit der Kostensenkung, die solche Maßnahmen erzielen, setzt sich ein Unternehmen am Markt über die Preissenkung seiner Ware gegen Konkurrenten durch, um den Gewinn, mitunter sogar die Existenz der Firma zu sichern.

Der Wechsel, den der Konsument in Ausübung seiner Verbrauchermacht vollzieht, ist denn auch gar keiner zwischen zwei verschiedenen Unternehmensphilosophien. Er tauscht in Wahrheit nur seine eigene Enttäuschung gegen eine neue Hoffnung aus, der neue Anbieter möge sich besser benehmen als der alte. Mehr als die schlechte Erfahrung hat er ja gar nicht aufzubieten für seinen Boykott eines aufgeflogenen Missetäters.

Und das ist das einzige, was das neu ins Herz geschlossene Unternehmen dem Missetäter voraus hat: Die schlechte Erfahrung will erst noch gemacht sein. Diese Moral moderner Konsumenten gegen die Auswüchse von Kommerz und Handel ist natürlich bei letzterem angekommen und prompt zu einem Geschäftsmodell für den Handel ausgebaut worden. Große Modemarken umwerben dieses spezielle Klientel damit, dass sie auf Kinderarbeit und Gifte in ihren Textilien garantiert verzichten. Fast-Food-Ketten locken mit dem Versprechen, gentechnisch veränderte Ingredienzien nicht in ihren Burgern zu verarbeiten. Was sie mit ihren Tellerwäschern machen, war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt.

Vom Lob der "Konsumgesellschaft" zur Kritik des Konsumenten

Die Leistungsbilanz der Konsumentenmacht fällt bescheiden aus. Auf der Habenseite steht vor allem eines: die Wirkung, die die Idee auf das Selbstbewusstsein ihrer Träger entfaltet. Man hat Verantwortung gezeigt und sich nichts vorzuwerfen. Dass die angepeilten objektiven Wirkungen auf den Markt ausbleiben, ist mit dem Prinzip der Produktion verbürgt, das unangetastet bleibt. Die Rechnungsweise, die jeden Aufwand als Kost bilanziert, die sich durch einen Gewinn rechtfertigen muss, bleibt auch in der Biobranche und anderen ethisch angeleiteten Unternehmungen in Kraft. Die schlechte Behandlung von Mensch und Natur stirbt daher auch in den Branchen nicht aus, die elaborierte Konsumenten zu den Edelsegmenten auch moralisch inspirierter Produktion zählen. Man hat sich daran gewöhnt, dass die großen Skandale unserer Tage auch und gerade auf das Konto derer gehen, von denen man "so etwas nicht erwartet" hätte.

Aus dieser Erfahrung wird allerdings kaum jemand klug. Dazu müsste man nämlich das Bild korrigieren, das sich der Mensch von der marktwirtschaftlichen Welt des Konsums gemacht hat. Der Kunde wird nicht nur im Prinzip gut bedient, er ist sogar die Instanz, die durch Einkaufsverhalten und Geldbeutel als ideeller Auftraggeber fungiert. Was auf dieser falschen, aber wohlmeinenden theoretischen Grundlage als Auswuchs oder Entgleisung entdeckt wird, ließe sich diesem Weltbild zufolge ja durch die Konsumentenmacht verantwortungsvoller Verbraucher durchaus wieder ins Lot bringen. Wo dieser Effekt aber angesichts der täglich wiederkehrenden Horrormeldungen ausbleibt, muss er wohl eindeutig auf das Konto des Bestellers gehen, der sich beim Einkauf immer noch und immer wieder danebenbenimmt, beim Blick in seinen Geldbeutel knausrig wird und damit den "schwarzen Schafen" unter den vielen guten Anbietern überhaupt erst eine Gelegenheit für ihr schäbiges Geschäft bietet.

Die Probe auf diese Behauptung ist in jeder Tageszeitung leicht zu haben. Warum geht das Klima den Bach runter? Weil der Konsument zu bequem ist und sein Auto nicht in der Garage lassen und die Heizung nicht drosseln will. Warum leiden Menschen in der Dritten Welt Hunger? Weil die Bewohner der Nordhalbkugel den Hals nicht voll kriegen und im Wohlstand schwimmen, auch wenn die Verkäuferin bei Schlecker davon nichts merkt. Warum sterben Lebensmittelskandale nicht aus? Weil der Verbraucher geizig ist und sein Geld lieber in ein teures Auto investiert statt in gesunde Bio-Vollwertkost. Wer für fünf Euro ein Kilo Fleisch erwartet, hat ja geradezu Gammelfleisch bestellt.

Das ist sie, die schlechte Meinung vom Verbraucher, bei der die gute Meinung vom Kapitalismus als Dienst am Kunden notwendig landet. So kommt "König Kunde" am Ende in den Genuss einer Doppelrolle. Als Konsument darf er dem Kapitalismus für eine Leistung danken, die gar nicht im Programm ist: Versorgung. Und die schädlichen Wirkungen, die das kapitalistische Wachstum tatsächlich auf Natur und Gesundheit hat, weil Gewinn statt Versorgung sein Ziel ist, darf der Konsument seiner mangelnden Verantwortung und Maßlosigkeit in Versorgungsdingen zurechnen.

1.2 "Taste the Waste" - Ursachenforschung in Sachen
Welthunger: Ist unsere Wegwerf-Mentalität schuld?

Ein Film, neulich in den Kinos, beleuchtet eine Seite "unserer Wirtschaftsweise", die eigentlich niemand gut findet, die umfangreiche Vernichtung von Lebensmitteln, und bemüht sich um die Zusammenfassung einer Debatte, an der sich ein paar Wochen lang auch die zuständige Ministerin und die Öffentlichkeit beteiligen:

"Mehr als die Hälfte unserer Lebensmittel landet im Müll. Allein in Deutschland werden jährlich bis zu 20 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen - das sind 500.000 Lastwagen voll. Das Essen, das wir in Europa wegwerfen, würde zweimal reichen, um alle Hungernden der Welt zu ernähren." (Zitate aus dem Film oder dem Buch zum Film: Die Essensvernichter, Klappentext)

Der Film liefert eine Darstellung der Vernichtung von Lebensmitteln und recherchiert die Umweltschäden, die im Zuge der Vernichtung von Lebensmitteln angerichtet werden, in drastischen Bildern, die betroffen machen sollen: Herrliche Tomaten werden von einer Müllanlage zu einem widerlichen Matsch verpresst, Arbeitskraft und Umwelt werden sinnlos vergeudet. Und der Schaden reicht bis in die Zukunft: das Klima wird durch Abholzen der Regenwälder zugunsten der Nahrungsmittelproduktion geschädigt und zusätzlich durch das Methan, das verrottende Lebensmittel freisetzen. Man erfährt: Das Problem ist riesig, global und betrifft "uns alle".

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Die Sache scheint klar: Wo so viel weggeworfen wird, wird zu viel produziert. Aber: Zu viel wofür? Ob der weggeworfene Warenüberschuss zu viel für den Appetit der Hungernden auf der Welt gewesen wäre, wird man nie erfahren: Denen wurde das Zeug ja nicht angeboten. Ob zu viel für das Geschäft mit Nahrungsmitteln produziert wurde, ist die Frage. Es ist nicht schwer, dem Film zu entnehmen, wie es zu der dargestellten umfangreichen Vernichtung von Essbarem kommt. Weggeworfen wird es nicht aus Gedankenlosigkeit oder Nachlässigkeit. Wann was wo entsorgt wird, ist mit spitzem Stift durchkalkuliert. Die Vernichtung von Lebensmitteln wird als Teil der Geschäftskalkulation vorgeführt, die Lebensmittelproduzenten, Handelsketten und Supermärkte anstellen.

Weggeworfen wird, damit mit den übrigbleibenden Lebensmittel erreicht wird, worauf es ankommt, eben der Gewinn der mit der Herstellung und Vermarktung befassten Firmen: Das Aussortieren von angegammelter Ware kostet Arbeit und Lohn, sodass es sich eher rechnet, eine ganze Steige wegzuwerfen; krumme Gurken passen nicht in gerade Kisten, sodass sie wegen erhöhter Verpackungs- und Transportkosten gleich gar nicht geerntet werden; der Transport aus aller Herren Länder bringt gewisse Unwägbarkeiten mit sich, sodass die Bohnen aus Kenia bei ihrer Ankunft im Großmarkt von Paris schon teilweise verdorben sind - den Kenianern hätten sie frisch geerntet sicherlich geschmeckt, aber für die waren sie nie gedacht; die Brotregale müssen bis zum Ladenschluss gefüllt sein, sonst landet der Kunde bei der Konkurrenz, also wird um 20 Uhr alles weggeworfen, was nicht verkauft wurde; im Supermarkt ist die neue Ware schon da, das Verfallsdatum der alten noch nicht abgelaufen, entsorgt wird sie trotzdem, sie verkauft sich nicht mehr, usw. usw.

Also: Mit der massenhaften Entsorgung der Lebensmittel werden die zur Herstellung aufgewendete Arbeit und die natürlichen Ressourcen, die in ihre Produktion eingehen, für null und nichtig erklärt, weil sich ihr Verkauf nicht lohnt. Der Nutzen, den die Produkte stiften könnten, kommt nicht zustande, weil er vor diesem harten Maßstab nichts gilt. Die stoffliche Seite der Waren ebenso wie die Bedürfnisse der Leute, die damit befriedigt werden könnten, zählen nur, wenn sie sich "rechnen".

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Der Film illustriert diesen ganz normalen ökonomischen Wahnsinn der marktwirtschaftlichen Produktion, will ihm aber keineswegs den offenkundig bedingungslosen Vorrang der in Geld berechneten Rentabilität des Lebensmittelgeschäfts vor den sachlichen Mitteln der Bedarfsdeckung entnehmen, von denen die Bedürftigen ausgeschlossen bleiben, wenn mit ihrer Versorgung kein Geschäft zu machen ist. Er entdeckt stattdessen ein Versäumnis, wenn massenhaft brauchbare Ware vernichtet wird und zugleich die globalen Ressourcen übermäßig strapaziert (sind), sich dem Ende zuneigen und doch immer mehr Menschen versorgen müssen".

Den systembedingten Irrsinn, den sie dokumentieren, halten die Autoren von Buch und Film für so etwas wie eine Zweckverfehlung, die sich - mit ein wenig gutem Willen - problemlos aus der Welt schaffen ließe, ohne dass sich an den eingerichteten ökonomischen Sachnotwendigkeiten groß etwas zu ändern bräuchte: Sie konfrontieren einfach den "Zynismus" der Lebensmittelvernichtung aus Preis- und Kostengründen mit äußerst wohlmeinenden Zwecken, um die es im weltweiten Nahrungsbusiness - wie vom Film selbst dokumentiert - zwar an keiner Stelle geht, aber nach ihrer Auffassung dringend gehen sollte: um Versorgung von Menschen bei globaler Ressourcenschonung.

Dass die kapitalistische Ernährungsindustrie diese guten Zwecke, die sich die Filmemacher von ihr wünschen, die sie aber nach ihrem kritischen Urteil nie gehabt hat - "Konzerne haben keinerlei Interesse an einer Einschränkung des Konsums und einer Begrenzung der Produktion. Raubbau an der Natur und Wegwerfmentalität sind ihre Markenzeichen und sichern den Geschäftserfolg" - fortwährend mit Aplomb verfehlt - diesem Beweis widmet sich der Film und mit "Wegwerfmentalität" deutet sich der Weg auch schon an, auf dem den gebrandmarkten üblen Zuständen abzuhelfen wäre. Weniger Konsum, das würde der geschundenen Natur helfen, und zugleich eine unselige Einstellung verändern, die, wie sich herausstellt, weniger das "Markenzeichen der Konzerne" ist, als viel mehr "unsere" moralische Haltung zu den Lebensmitteln kennzeichnet:

"Warum haben die Menschen in den sog. 'entwickelten' Ländern die Wertschätzung für das Essen verloren? Das mag damit zusammenhängen, dass die Nahrungsmittel immer billiger werden."

Dieselben Autoren, die die verächtliche Rolle, die den Bedürfnissen der Leute selbst dann, wenn sie massenhaft verhungern, und den Gebrauchswerten, die das verhindern könnten, vom Geschäftsinteresse zugewiesen wird, ausgiebig illustrieren, halten gegen alle Fakten das Geschäft mit der Ernährung für einen Dienst an diesen materiellen Bedürfnissen der Menschheit, der dazu noch ausgesprochen übertrieben ausfällt: Zu viel Konsum als Problem "unserer Wohlstandsgesellschaft"!

Dass und wie das Wegwerfen von Nahrungsmitteln seinen Platz in der Kalkulation der Firmen hat und insofern das Vernichten von Gebrauchswerten Teil der Kostensenkungsstrategien bei der kapitalistisch-industriellen Großproduktion von Essen ist, führt der Film selbst vor. Auch, dass Billigproduktion darauf zielt, möglichst viel von der beschränkten Kaufkraft des Massenpublikums in die eigenen Kassen anstatt in die der Konkurrenz zu lenken, also die großen Supermarktketten im Kampf gegeneinander an der Armut dieses Publikums zu verdienen trachten, und ihre Kundschaft dabei mit wenig Qualität und viel Gift, ohne das billige Massenproduktion nicht zu haben ist, bedienen.

Und dann wollen die Filmemacher das alles als das genaue Gegenteil verstanden haben, nämlich als eine große Verwöhnungsaktion, die allzu preiswerten Überfluss stiftet und dadurch die guten Sitten und die Moral verdirbt, die beim Essen und bei der Rettung des Planeten so wichtig sind! Die "Wertschätzung" des täglichen Brotes ist im Eimer - ein Gegenstandswechsel, der alle Folgen der kapitalistischen Subsumtion des Gebrauchswerts unter das Regime der Geldvermehrung zur kompetenten Bewirtschaftung an die Adresse derer verweist, die mit ihrer Zahlungskraft für nichts anderes vorgesehen sind, als dem Prinzip in letzter Instanz zum Erfolg zu verhelfen, das dermaßen auf ihre Kosten geht:

"Mit unserem Essverhalten und unserer Wegwerfmentalität tragen wir erheblich zur Klimaerwärmung bei. Jeder Konsument verbraucht jede Menge Energie für sein Essen."

So viel Ehre für die trostlose Figur des Konsumenten! Nur weil er essen muss, sich dafür sein Einkommen einteilen und - je geringer dieses ausfällt, desto mehr - bei den Sonderangeboten der Supermärkte zugreifen muss und dafür nicht zu knapp Pestizide und Antibiotika einkauft, wird er, ganz so, als hätte er sich genau das alles selber ausgesucht, vom Schwanz der kapitalistischen Geschäftsbewegung, vom Anhängsel und Objekt kapitalistischer Vermarktungsstrategien zum sittlich fragwürdigen Subjekt befördert, das mit seiner verschwenderischen "Mentalität" den Planeten in die Scheiße reitet.

So haben am Ende des Filmes alle - mit Ausnahme der paar Millionen Leute in den Hungergebieten Afrikas und anderswo, die gar nicht essen - mit der Verantwortung zu leben, mitschuldig an der großen Nahrungsverschwendung und deren Folgen für den Planeten zu sein: Die Hersteller und Lieferanten, die "uns Verbraucher" mit "immer besseren Angeboten verführen und verziehen", viel zu niedrige Preise von uns verlangen und uns dadurch zu übermäßigem Konsum und "Wegwerfmentalität" erziehen; und eben "wir", die wir mit unseren "Gewohnheiten und Vorlieben" dem problematischen "Geschäftserfolg der Konzerne" Vorschub leisten. Zusammen heißen wir dann "System" - weil es in dieser verantwortungsvoll antikritischen Analyse des kapitalistischen Ernährungsgeschäftes selbstredend "nicht einen Schuldigen gibt""", wenn wir alle "mittendrin stecken".

Damit wir da nicht auf immer und ewig stecken bleiben, sollen wir uns eine neue "Achtsamkeit" gegenüber unseren Joghurts und Schweinebraten zulegen, und überhaupt gegenüber all den schönen Gebrauchswerten, mit denen "das System" unser Dasein auf so problembeladene Weise bereichert. Kritische Selbstreflexion bei der Warenkunde - wenn"s weiter nichts braucht zu seiner Rettung, kann der Planet ja getrost aufatmen.

1.3 Anlässlich der Fabrik-Katastrophen in Bangladesch:
Mit "Fair Trade" die Welt verbessern!

Ausbeutung in der 3. Welt: Nichts weiter als eine Herausforderung an die Moral des westlichen Verbrauchers

1. Seit der Nachricht über brennende oder einstürzende Textilfabriken mit Tausenden Toten stehen Hungerlöhne und Arbeitshetze in der Dritten Welt am Pranger. Die Verbraucher in den Zentren der globalen Marktwirtschaft sollen wissen, unter welch brutalen Bedingungen ihre Klamotten hergestellt werden: "Nähen und sterben für den Westen!" (Spiegel, 01.07.2013) Und verschwiegen wird ihnen tatsächlich nichts.

"Bangladesch - Die Geschichte einer absehbaren Katastrophe
80 % der Exporterlöse stammen aus der Textilindustrie. Die Volkswirtschaft Bangladesch hat nur diesen einen Trumpf: die niedrigsten Löhne der Welt. Dazu 160 Mill. Menschen, die sich duldsam ausbeuten lassen, weil es immer noch erträglicher ist, im Industriepark Dhaka zwölf Stunden am Tag Knochenarbeit zu leisten, als landlos in einem halbüberschwemmten Dorf Hunger zu leiden. (?) Im Rana Plaza arbeiteten zwischen Wellblechhütten ca. 3500 Menschen für Textil-Discounter und Kaufhausketten aus USA und Europa. Auf jeder Etage stehen Hunderte elektrische Nähmaschinen, 70 in einer Reihe, und 4 schwere Dieselgeneratoren, weil an manchen Tagen 50-mal das Stromnetz zusammenbricht. Das ohne amtliche Genehmigung errichtete Haus hatte zu dünne Zwischendecken; die Maurer hatten nie zuvor ein so hohes Gebäude gebaut. Der Beton war mit zu viel Sand versetzt, der Boden nachgiebig. Zwei weitere Etagen wurden nachträglich aufgestockt. All dies würde der hohe Ermittler aus dem Innenministerium später herausfinden? Billig, billig, billig! Wenn Sicherheit und Arbeit nichts kosten, steigen die Gewinne. Wenn Bangladeschs Regierung aber das Gebäude- und Brandschutzabkommen durchsetzt und die Mindestlöhne anhebt, wird die Branche einfach weiterziehen - ins nächste, billigere Land."
(Spiegel/SZ)

Solche Reportagen bringen die Interessen der beteiligten Subjekte anschaulich zur Sprache:

- Der Staat Bangladesch wirbt mit seinen billigen und willigen Massen um die Gunst international agierenden Kapitals; diesen Trumpf bietet er westlichen Firmen zur Ausbeutung an. Das verschafft ihm die Rolle als "Nähstube der Welt, eine riesige Textilfabrik mit Hymne und Sitz bei der Uno" - die ständig gegen die Konkurrenz gleichartiger Nationen zu verteidigen ist.

- Die Konzerne schätzen derart gastfreundliche Investitionsbedingungen. Sie verbuchen das schier unerschöpfliche Reservoir an Elendsfiguren sowie die Freiheit von staatlicher Aufsicht als prima Geschäftsgelegenheit. Je weniger das kostet, umso besser für sie; "regelmäßige Industrieunfälle" sind die absehbare Folge ihres Wettbewerbs um das preiswerteste Humankapital.

Beide Seiten treffen sich im selben Interesse. Sie geben - unter ausdrücklicher Berufung auf den "Sachzwang der Rentabilität" - zu Protokoll, dass der Reichtum kapitalistischer Volkswirtschaften auf der Armut der Lohnarbeiter beruht. Das gilt insbesondere für "Niedriglohnländer", die dem kapitalistischen Weltmarkt außer ihrem darbenden Volk wenig anzubieten haben.

2. Mit möglichst wenig Lohn aus der Firmenbelegschaft möglichst viel Leistung herausholen: Das Prinzip kennt man als den Normalfall hier. Aber mit extrem niedrigen Kosten maximalen Gewinn zu machen: Das geißelt man in Bangladesch als Ausbeutung. Dabei zeigen die Berichte, dass diese Praxis an "unseren verlängerten Werkbänken" keine Entgleisung ist, sondern ein Extremfall der marktwirtschaftlichen Regel. Deren "Sachzwänge" enthalten sachdienliche Hinweise auf ein weltweites System der Ausbeutung.

Der Kapitalismus "Made in Bangladesch" ist, wie bekanntlich alles aus dieser Gegend, eine Kopie des Originals. "KiK, Primark, Aldi, Lidl, Benetton, H&M, Gucci, Gap": Dieselben Firmen, die es hier in jeder Fußgängerzone gibt, lassen per Handarbeit für ein paar Cent Stundenlohn produzieren, was sie an ihren Supermarktkassen für ein paar Euros versilbern. Warum nahezu die gesamte Textilindustrie nach Südostasien, China oder in die Türkei "abgewandert" ist, ist allseits bekannt: Dem Kapital ist sein Arbeitvolk im Westen allmählich zu teuer geworden; die Globalisierung eröffnet die Möglichkeit des Exports westlicher Produktivitätsstandards; neue Belegschaften, die dieselbe Arbeit viel billiger erledigen, sind schnell gefunden. Kein Wunder. Für die Milliarde der Erdbevölkerung, die in unbewohnbaren Gebieten vor sich hin vegetiert, ist eine Hütte und ein Job in einem der neu entstehenden Industrieghettos allemal ein Angebot zum Überleben - und die hoffnungslose Lage dieser Leute befördert die massenhafte Nachfrage.

Diese Lage zeigt eine vielleicht unvorstellbare Armut, doch könnte die Logik ihrer Ausnutzung einen gewissen Wiedererkennungswert haben: Dieselbe Rechnungsweise, die die Firmen daheim praktizieren, verlängern sie an ihre auswärtigen Werkbänke; ins Verhältnis setzen sie den Preis der gekauften Arbeit und den Ertrag, der sich aus ihr herausquetschen lässt. Auch im internationalen Vergleich behandeln sie den Lohn, von dem die Leute leben wollen, als einen Kostenfaktor; und in diese Rubrik fällt auch alles, was heutzutage und hierzulande als Sozialstandard gilt. Brand- und Gebäudeschutz, Notfall-, Hygiene- und andere Sicherheitsmaßnahmen - all das ist betriebswirtschaftlich nichts als Abzug vom Gewinn. Ein Armutszeugnis im wahrsten Sinne: Kann man etwas Schlimmeres über eine Wirtschaftsordnung sagen, als dass sie das šberleben der Produzenten laufend in Frage stellt? Dass jede Maßnahme zum Schutz von Leib und Leben eine Unkost ist, die den Zweck des Produzierens beeinträchtigt? In einer kapitalistischen Fabrik wird so gerechnet: Alles, was die Arbeit ungefährlicher, gar bequemer machen würde, schmälert den Profit, also das, wofür produziert wird. Die Unternehmen haben daran kein Interesse; aktiv werden sie erst, wenn sie - durch Kämpfe der Arbeiterklasse oder von Staats wegen - dazu gezwungen werden.

So zeigt sich im Sonderfall Bangladesch der Normalfall. Aus der Gemeinsamkeit der materiellen Zwangslage, die die Leute immer wieder in die Fabrik nötigt, folgt der Unterschied: šberall kann man nur leben, wenn man fürs Kapital lebt; dort aber macht sich das Heer von Hungerleidern, für das jede Art von Arbeit eine Chance ist, der Not zu entfliehen, als zusätzliches Erpressungsmittel geltend. Es ist dasselbe Diktat zur Lohnarbeit, dem die Insassen hiesiger Industrienationen unterworfen sind, woraus die besonderen Formen der Armut dort hervorgehen. Der Maßstab rentabler Arbeit, der jede nationale Arbeiterklasse in Berufstätige und Erwerbslose scheidet, sortiert auch die Völker in weitgehend benutzte Lohnabhängige und weitgehend ungenutzte Über-Bevölkerung - und diese Differenz der Lebenslagen an den Wirtschaftsstandorten hier und dort macht sich das Kapital zunutze. Millionen eigentumsloser Leute in der marktwirtschaftlich nun komplett globalisierten Staatenwelt werden neu verfügbar, und die ökonomischen Subjekte dieser Welt, die Multis, greifen zu: Da hinten gibt es einen Riesenhaufen armer Menschen, die nichts zum Beißen haben - nichts wie hin!

3. Als Grund der üblen Produktionsbedingungen in der Dritten Welt ermittelt unsere kritische Öffentlichkeit eine "Ist-mir-egal-Haltung des Westens"; den dort engagierten Firmen wirft sie systematisch betriebene "gewissenlose Ausbeutung" vor. So verwandelt sie die Systemfrage in einen Kalauer der Moral: Es fehlt an "Verantwortungsbewusstsein".

"Bangladesch steht für Tod. Für Ausbeutung und Profit. Für Arbeit ohne Würde und für Gewissenlosigkeit der Produzenten. Bangladesch steht für Korruption und Wegschauen. Für Kinder- und Sklavenarbeit. Für eine Ist-mir-egal-Haltung des Westens und 4-Euro-Shirts." (SZ, 04./05.05.2013)

Die Landeskunde fängt an mit "Ausbeutung & Profit". Und sie hört auf, so als wäre das die gründlichere Erklärung, mit dem Befund: "Ist-mir-egal-Haltung & 4-€-Shirts". Meint der Autor wirklich, aus Billigblusen Profit herauszuholen und dafür am Golf von Bengalen Massen von Näherinnen auszubeuten, wäre mit Gleichgültigkeit zu machen? Zwischendrin greift er ins Standardrepertoire moralischer Beschimpfung - "Gewissenlosigkeit", "Wegschauen" -, um das Offensichtliche nicht gelten zu lassen: die in ehrenwerten Geschäftsberichten dokumentierte Absicht, mit Billigstarbeit Profit zu machen; eine planmäßig exekutierte Unternehmenspolitik, die Bangladesch als passenden Standort für so ein Geschäft entdeckt und dazu hergerichtet hat., Dass die einschlägig engagierten Konzerne für die Produktion vor Ort Subunternehmen einschalten, kritisiert der Berichterstatter - unter Berufung auf eine zuständige Hilfsorganisation - in einer Weise, die diese Gepflogenheit kapitalistischer Arbeitsteilung radikal verharmlost:

"'Viele internationale Firmen tun zu wenig, um für faire Jobs zu sorgen. Wenn es um Praktiken ihrer Subunternehmer geht, drücken sie gern ein Auge zu', sagt die Hilfsorganisation Care." (SZ)

Die billige Technik, die brutalen Konsequenzen eines geschäftlichen Auftrags dem Auftragnehmer anzulasten und für die eigene Kalkulation auf Unschuld zu plädieren, äußerstenfalls Versäumnisse einzuräumen, nimmt diese Kritik für bare Münze. Sie will, bei allem melodramatisch ausgedrückten Abscheu über die Wirkungen stinknormaler kapitalistischer Geschäftstätigkeit einfach nicht wahrhaben, dass es sich dabei um Wirkungen stinknormaler kapitalistischer Geschäftstätigkeit handelt. Eine andere Variante derart verharmlosender Kritik fordert Aufklärung über das Offensichtliche - auch eine Art, nicht auf die praktizierte Geschäftspolitik der Textilkonzerne loszugehen, sondern stattdessen die Verletzung von Kriterien des geschäftlichen Anstands zu vermuten, deren Aufdeckung den Firmen ein furchtbar schlechtes Gewissen machen würde:

"Firmen wie GAP, Zara oder H&M müssen endlich öffentlich Rechenschaft ablegen, wieso sie jährlich Riesen-Gewinne machen und dennoch den verarmten Beschäftigten ihrer Zulieferer keinen Existenzlohn bezahlen. Es kann nicht sein, dass Textilarbeiterinnen 12 Std. pro Tag schuften und dennoch vor Hunger kollabieren." (Clean Clothes Campaign)

"Dennoch"? Weil sie Mini-Löhne zahlen, machen die Multis Riesen-Gewinne; und im Ernst kann selbst diese Saubere-Klamotten-Kampagne nicht so naiv sein, dass sie den wirklichen Zusammenhang nicht kennt. Aber genau das schlichte Verhältnis von Ursache und Wirkung will sie so nicht stehen lassen: Ihre Empörung lebt von der Fiktion eines Riesengegensatzes zwischen "Riesengewinn" und dem Mittel seiner Erwirtschaftung. Und weiter: "Es kann nicht sein, dass ..."? Genau so ist es doch; und dass man das "unmöglich!" mit drei Ausrufezeichen findet, ist keine Kritik an der Ursache, sondern die Kundgabe eines Vorurteils, das der Sachlage Hohn spricht: Eigentlich hätten die Firmen die Besatzungen ihrer südasiatischen Profitmaschinerie gut zu behandeln - warum? Weil ihre schlechte Behandlung so gute Erträge abwirft! Unerbittlich halten diese Kritiker das Ideal der versöhnbaren Interessen von Kapital und Arbeit, eines wechselseitigen Gebens und Nehmens hoch; gegen die Realität globaler Marktwirtschaft, in deren fernöstlichen Dependancen von einer solchen Verheißung am allerwenigsten zu merken ist. Und wenn sie das entdecken, lässt sie das nicht etwa an ihrem Standpunkt irre werden, sondern bestärkt sie nur in dem Urteil, als Grund des aufgedeckten Elends käme nichts anderes in Frage als ein Verstoß gegen den eigentlichen guten Geist kapitalistischer Profitmacherei.

Die Fehlanzeige in Sachen Gewissen landet folgerichtig bei lauter Verbesserungsideen, wie den verarmten Beschäftigten da unten doch noch zu einem Existenzlohn zu verhelfen sei.

4. Aus der Diagnose folgt die Therapie: Schrankenloser Ausbeutung Grenzen ziehen! Doch wer soll das tun? Weit oben auf der Liste der Bremser ungebremster Herrschaft des Profits steht neben zivilisiertem EU-Kapital das Vorbild westlicher Sozialstaaten, die das Arbeitsvolk vor dem Gröbsten schützen. Auf diesem Wege werden die Täter als Helfer angerufen.

"Bangladesch ist nach China der zweitgrößte Textilproduzent der Welt, und die EU ist der größte Handelspartner. Der bangladeschische Staat ist also auf die Textilkonzerne aus den Industrieländern angewiesen. Sie haben Macht! Ist es nicht längst an der Zeit, dass die westlichen Firmen die Sozialstandards vorgeben anstatt nur die Abnehmerpreise? Sie können für anständige Arbeitsbedingungen sorgen und sie haben die Verantwortung dazu." (SZ, 04./05.05.2013)

Der Glaube an eine Verantwortung der Ausbeuter für ihre nützlichen Opfer findet hier eine interessante Fortsetzung: Ausgerechnet die Macht der Konzerne, gegen die nach der kundigen Analyse der Berichterstatter nicht einmal die politische Macht des Staates Bangladesch etwas auszurichten vermag, die ökonomische Macht, über deren Gebrauch und deren Wirkungen man in der Sache alles Nötige erfahren hat, kriegt hier das Kompliment, gleichbedeutend mit einer Pflicht zur Fürsorge für die Lebensbedingungen der kommandierten Massen zu sein. Dass von solcher Fürsorge nichts zu merken ist, hält der Autor für ein Versäumnis, das nicht länger zu entschuldigen sei - offenbar war in seinen Augen die Macht der Konzerne bis neulich noch nicht groß genug, um mehr als "die Abnehmerpreise" zu diktieren; nämlich andere als diejenigen "Sozialstandards", die sie tatsächlich "vorgegeben" haben. Um welche es sich da handeln sollte, weiß man in den zuständigen Redaktionsstuben auch:

"Das Sterben in den Fabriken Bangladeschs wird so lange weitergehen, bis das umgesetzt ist, was längst auf dem Papier geschrieben steht: Die Achtung der Menschenrechte, das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit, der Gesundheitsschutz, Chancengleichheit und das Recht, Gewerkschaften zu gründen. Es sind die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Es sind Mindeststandards und jene Arbeitnehmerrechte, die in vielen Industrieländern, in denen die Blut-Klamotten gekauft werden, selbstverständlich sind." (SZ)

Aufgeschrieben gibt es die Normen und Gebote humaner Ausbeutung des Faktors Arbeit also schon - dass es sich da um Ge- und Verbote handelt, dass sich demnach für die ökonomisch mächtigen Akteure des Geschäfts mit menschlicher Arbeit offenkundig überhaupt nichts von selbst versteht in Sachen Anstand, dass denen sogar der Verzicht auf "Kinder- und Zwangsarbeit" erst gewaltsam aufgenötigt werden muss: das scheint die wohlmeinenden Kritiker der bangladeschischen Textilindustrie genauso wenig zu irritieren wie der Befund, dass die papierene Existenz solcher "Mindeststandards" anscheinend gar nichts bewirkt und praktisch gar nichts bedeutet. Diese Kritiker sind sehr zufrieden mit dem schönen Gedanken, dass es das extreme Elend - "Sterben in den Fabriken" - nicht mehr geben würde, wenn man sich auch in Bangladesch an dessen Verbot halten würde, weil es dieses Elend ja nur "so lange" gibt - und ein kleines "nur deswegen" ist hier schon mitgedacht! -, wie seine Verhinderung nicht "umgesetzt" ist.

Woran es "also" fehlt, ist, dieser kritisch-optimistischen Sicht der Dinge zufolge, gar nichts Großes, sondern bloß die Verwirklichung dessen, was in den Abnehmerländern der südasiatischen Textilindustrie "selbstverständlich" ist: die "Umsetzung" auch in den Ländern, die nur deswegen eine Textilindustrie haben, weil die zuständigen Konzerne dort etwas andere "Sozialstandards" selbstverständlich finden.

Zu diesem Hoffnung stiftenden "so lange ... bis" sind dann doch zwei Dinge anzumerken. Erstens versteht sich das, was der Autor des Sittenbilds aus Bangladesch hierzulande so selbstverständlich findet, so ganz von selber keineswegs. Um der Ruinierung der für Lohn arbeitenden Menschenklasse überhaupt ein paar Schranken zu setzen, konnte diese Klasse sich nie auf die wohltätige Macht ihrer Arbeitgeber verlassen, auch nicht auf die Kalkulationen ihrer politischen Obrigkeit, und auf die Menschenrechte schon gleich nicht. Dafür musste sie schon den Willen aufbringen, Staatsgewalt und Kapital unter Druck zu setzen, und nicht zu knapp Gegengewalt organisieren. Und das ist auch in den so vortrefflichen "Industrieländern", in denen T-Shirts vier Euro kosten, alles andere als abgeschlossene Vergangenheit: Mitten im europäischen Wohlstand debattieren die politisch Verantwortlichen immer wieder über die Kosten sozialer Netze, die bei wachsendem kapitalistischen Reichtum nicht überflüssig, sondern "unfinanzierbar" werden.

Und sie debattieren nicht bloß: Sie setzen überkommene Standards bei den Arbeitsbedingungen außer Kraft, wo die im internationalen "Wettbewerb" nachteilig wirken könnten, und schaffen Rechtssicherheit für Lohndrückerei bis unters Existenzminimum. Wenn sie dann Staaten wie Bangladesch "Lohn-" und "Umweltdumping" als ungerechtfertigten Konkurrenzvorteil vorwerfen, dann stellen sie damit vor allem klar, welchem Vergleich sich die stolzen "Arbeitsplatzbesitzer" hierzulande unausweichlich stellen müssen, weil in der globalisierten Marktwirtschaft weltweit operierende Firmen diesen Vergleich praktisch anstellen und die zuständigen Staaten das als sehr vernünftigen ökonomischen Sachzwang akzeptieren.

Zweitens verhält es sich in Bangladesch nicht mit der Moral-, sondern mit der Machtfrage zwischen Textilarbeitern auf der einen, Textilindustrie plus Staat auf der anderen Seite ein bisschen anders als da, wo "Kernarbeitsnormen" geachtet und "Blut-Klamotten gekauft" werden. Da steht nämlich auf der einen Seite ein so massenhaftes und so nacktes Elend, dass an eine organisierte Gegenmacht kaum zu denken ist. Und auf der anderen Seite stehen hinter der ökonomischen Macht des Geldes, mit der sich ein paar Weltkonzerne eine einheimische Textilindustrie mit brutalen Ausbeutungsmethoden hingestellt haben, gleich zwei mächtige politische Instanzen: die Staatsgewalt vor Ort, die allemal stark genug ist, dem Kapital zu seinem Geschäft zu verhelfen und Protest gar nicht erst hochkommen zu lassen, und die ein eigenes ökonomisches Interesse daran hat, den Konzernen diesen Dienst auch zu leisten; und außerdem die hochzivilisierten Staatsgewalten der Ersten Welt, die rund um den Globus dafür sorgen, dass den Multis, die bei ihnen zu Hause sind, nirgends ein Leid geschieht, dass deren Eigentum und dessen geschäftliche Verwendung gesichert sind und bleiben, und dass kein drittweltlicher Staatsmann das Gemeinwohl seiner Nation woanders als in der Bedienung des globalisierten Kapitals sucht, geschweige denn eine Chance findet. Unter solchen Bedingungen gehört es zu den realen "Selbstverständlichkeiten", dass nicht einmal eine brave, konstruktiv gesinnte Gewerkschaftsbewegung auf einen grünen Zweig kommt.

Auch das alles ist im Übrigen nicht unbekannt. Bloß hindert das die Anwälte "fairer Jobs" in aller Herren Länder einerseits nicht, unsere Konzerne und unsere Sozialstaaten ideell in die Liste der Hilfsorganisationen einzugemeinden, an die man zwecks Abhilfe zu appellieren hat. Andererseits weiß man es zugleich doch besser: Immer wieder siegt die Profitgier über soziale Verantwortung, werden wohlklingende Rezepte zur Linderung der Armut nicht umgesetzt. Das Ende der Fahnenstange ist dennoch nicht erreicht: Wenn Appelle an den sittlichen Wertehimmel unserer sozialen Marktwirtschaft verhallen - "Bestürzung, Trauer, Angst: Doch sie nähen einfach weiter!" (SZ) -, dann müssen "wir alle" handeln und die Verantwortlichen an den Schalthebeln von Ökonomie und Politik eben zur Rücksicht auf die armen Näherinnen zwingen.

5. So landet die Therapie bei ihrer letzten Instanz, an die von Anfang an gedacht war: Die Macht des Verbrauchers soll reparieren, was die kapitalistische Produktionsweise anrichtet. Die Parolen dieser beliebten Initiative heißen "Fair Trade" und "Ethischer Konsum" - "sozial verantwortliche" Hersteller belohnen, "Ausbeuterfirmen" bestrafen! Das ist mal eine echt konstruktive Kritik: Konsequenzen abmildern, ohne den Ursachen zu nahezutreten!

So viel steht fest, und davon gehen auch die Kritiker des Arbeitselends in den "armen Ländern" aus: Druck machen zur Besserung dieser Verhältnisse, das können nur diejenigen, die den Konzernen die ökonomische Macht verschaffen, mit der sie in Bangladesch und andernorts so wüst herumfuhrwerken. Und das, auch davon gehen sie aus, sind nicht die ohnmächtigen Hungerleider vor Ort, sondern die Massen in den Zentren der Weltwirtschaft.

Fest steht allerdings auch: In der Eigenschaft, in der diese Massen von Dritte-Welt-Gruppen und Fair-Trade-Aktivisten zur Tat aufgerufen werden, nämlich in ihrer Eigenschaft als zahlungsfähige und -bereite Konsumenten sind sie nicht Produzenten, sondern Anhängsel der Macht der Unternehmen, die die globale Marktwirtschaft beherrschen. Und in der Eigenschaft, in der die lohnarbeitenden Bewohner der Ersten Welt tatsächlich die ökonomische Macht des global wirtschaftenden Kapitals produzieren und mehren, also auch schwächen und überwinden können, nämlich als Quelle des kapitalistischen Wachstums, werden sie gerade nicht angesprochen.

Dabei ist das der einzige Zusammenhang zwischen den verschiedenen ökonomischen Welten, der hiesige Hochleistungs-Proletarier und auswärtige "Sklavenarbeiter" wirklich - und nicht bloß über zufällige Kaufakte - miteinander verbindet: Ihrem ökonomischen Status nach sind sie tatsächlich Kollegen - leibhaftige Produktivkraft, die die kapitalistische Unternehmenswelt sich zunutze macht, nämlich für die wachsende Macht ihres Geldes; in technisch perfektionierter Form und entsprechend ergiebig hier, äußerst billig und unter miesesten Arbeitsbedingungen auch ganz schön einträglich an anderen Orten. Hier wie dort dienen "Arbeitnehmer" einem Reichtum, der ihnen dort wie hier, jeweils mit seinem ortsüblichen Instrumentarium, als Kommandogewalt gegenübertritt, Profit aus ihnen herausholt und ihre Abhängigkeit vom Eigennutz des kapitalistischen Eigentums perpetuiert. Letzteres jedenfalls so lange, wie sich die Dienstmannschaften, auf deren weltrekordmäßigen Glanzleistungen die weltweite Kommandogewalt ihrer "Arbeitgeber" wesentlich beruht, nicht dazu entschließen, mit ihrer Arbeitskraft etwas Besseres anzufangen und deren Verbrauch durch globalisierte Kapitalisten zu kündigen. "Solidarität mit den armen Näherinnen" ergibt sich daraus dann ganz von selbst und ist auch etwas ganz anderes als hohle Gewerkschaftsphrase: Ein entmachtetes Kapital kann auch die "Ärmsten der Armen" nicht mehr unter Druck setzen.

Doch genau darauf zielen die Kampagnen der Drittwelt-Freunde nicht. Die drücken ganz im Gegenteil auf die Unterschiede zwischen Lohnarbeitern hier und dort. Ihr Appell zur Solidarität ergeht an Leute, die ihren Arbeitstag hinter sich haben und mit den wie auch immer verdienten Kröten einkaufen gehen. Ein Herz sollen die haben für arme Opfer, in denen niemand mehr den besonders mies behandelten Kollegen erkennt und erkennen soll. Als Kundschaft mit Geld sollen sie sich ein bisschen verantwortlich fühlen für "Menschen in Not" und werden dafür auf eine Weise angequatscht, die, ernst genommen, schon wieder ein verheerendes Licht auf die herrschenden weltwirtschaftlichen Verhältnisse wirft:

"3500 Menschen begaben sich an ihren Arbeitsplatz, obwohl die Einsturzgefahr augenfällig war. Dennoch gingen sie hinein. Warum? Ein Teil der Antwort findet sich nicht in Bangladesh, sondern in unseren Städten, bei H&M, bei Zara, bei Next und Primark, überall, wo ein T-Shirt verlockend wenig kostet. 4,99 Euro, 3,99 Euro, fast nichts. Ein solcher Preis setzt voraus, dass Käufer und Produzent möglichst wenig voneinander wissen. Von den Entstehungsbedingungen will der Kunde in London oder München nicht wirklich hören. Er will ein T-Shirt, kein Schicksal." (Spiegel)

In der Tat, der Mensch will ein Hemd und sonst nichts, aber in der Marktwirtschaft ist nichts normal und kein nützliches Ding einfach nur ein nützliches Ding. Der Mensch braucht einen Artikel - aber das Geld, das er als Kunde dafür hinlegen muss, der Kaufpreis, ist seiner wahren ökonomischen Natur nach das Ergebnis und der Anzeiger eines Produktionsverhältnisses, von dessen Brutalität er wiederum gar nichts zu wissen braucht, weil er als Kunde damit praktisch auch gar nichts zu tun hat. Der Mensch denkt also, er ersteht ein T-Shirt - in Wahrheit finanziert er, ob er will oder nicht, ein Stück Ausbeutung, die Vernutzung menschlicher Arbeitskraft für den Profit eines Unternehmens. Schreibt der Spiegel und hat damit mehr Recht, als er selber meint: Dieses System organisiert Bedürfnisbefriedigung durch Ausbeutung. Geht?s noch verrückter?

In der Sache kaum; moralisch schon. Dann nämlich, wenn man diese Absurdität als gegebene Sachlage akzeptiert und die Menschheit mit ihren Bedürfnissen dazu aufruft, als Kundschaft der profitierenden Unternehmen die schlimmsten Konsequenzen dieser Sachlage zu mildern. Wie? Dadurch, dass man mit einem höheren Preis den profitierenden Unternehmen ein bisschen was von ihrer brutalen Kalkulation abkauft. Dadurch, dass man sie mit Geld entschädigt für das bisschen Profitverzicht, den sie sich mit ein bisschen besserer Behandlung und Bezahlung ihrer Dienstkräfte antun müssten. Spenden - mal nicht für die Armen, sondern für die Reichen, die für bittere Armut sorgen, damit die es nicht gar so schlimm treiben!

Auf die Art die Welt verbessern: Das ist zwar einerseits nicht ganz einfach. In der Kalkulation der Unternehmen steckt der noch so wohlmeinende Kunde nicht drin. Mit dem Preis, den er zahlt, erteilt er ein für allemal keinen Produktionsauftrag und schon gar keinen Auftrag bezüglich der Produktionsbedingungen. Er kann allenfalls teurere Hemden kaufen und darauf hoffen, dass deren Produzent den Preisaufschlag nicht selber einsteckt - so wie die Unternehmen, deren hochpreisige Markenware in den eingestürzten Textilfabriken gleich neben der Billigware der Discounter zu finden war -, sondern in irgendeiner Form an die Bedienungsmannschaft seiner Profitmaschinerie weiterleitet: ein Vertrauensvorschuss, der eingestandenermaßen in der Welt der freien Marktwirtschaft niemanden zu irgendetwas nötigt. So weit die schlechte Nachricht.

Andererseits jedoch, das die gute Botschaft, ist dieser Vertrauensvorschuss billig zu haben. Jedenfalls in der Bangladesch- und T-Shirt-Frage. Denn da sind die Arbeitsbedingungen so brutal, die Löhne so niedrig, das Elend ist so groß, dass mit ein paar Cent pro Einkauf schon etwas Spürbares auszurichten wäre:

"Verdi-Experte Rösch verlangt mehr Fairness: Wenn die deutschen Textilhändler in ihrer Kalkulation für jede Näherin in Bangladesch im Monat zusätzlich 50 Euro berücksichtigen, würde das einzelne Produkt wie das T-Shirt oder die Bluse lediglich 12 Cent mehr kosten. Das ist für die Händler ein lächerlicher Betrag, für die Beschäftigten aber ein großer Schritt aus der Armut." (SZ)

Der Kunde muss nicht fürchten, dass es richtig teuer würde, den Ausbeutern in Bangladesch und anderswo ein bisschen Rücksichtnahme vorzufinanzieren. Außer ein bisschen gutem Willen und 12 Cent kostet die Weltverbesserung praktisch nix. Gibt's quasi zum Nulltarif.

Fazit: Weltverbesserung an der Ladentheke lohnt sich.

Vielleicht, ein bisschen, für "die Näherin" in Bangladesch, wenn nämlich genügend gute Menschen am Werk sind und dafür sorgen, dass bei der tatsächlich was ankommt vom höheren Endverkaufspreis. Wahrscheinlich, schon etwas mehr, für das Unternehmen, das mit mehr Erlös kalkulieren kann und für seinen Gewinn keine guten Menschen, sondern gute Manager braucht. Ziemlich sicher für die Gemütslage der kleinen radikalen Minderheit in der Ersten Welt, die die Produktionsbedingungen der weltweiten Marktwirtschaft zwar nicht im Griff hat, sich daraus aber ein Gewissen macht: Das fühlt sich dann wohl besser an.

Auf jeden Fall lohnt sich das Ganze für ein globales Ausbeutungssystem, das von seinen empörten Kritikern nichts Schlimmeres zu fürchten hat als einen Preiszuschlag für seine nachhaltige Finanzierung.

2. Zur Erinnerung: Von der Unbekömmlichkeit der bunten Warenwelt für ihren "Auftraggeber", den Konsumenten

Wir fügen hier noch einige ältere Artikel an, die seinerzeit anlässlich diverser Skandalmeldungen veröffentlicht wurden – eine kleine Materialsammlung der ganz gewöhnlichen Widerwärtigkeiten und ihrer demokratischen Bewältigung.

2.1 Östrogenkandal eingefroren
(aus MSZ 1980-06)

Da die Dauer der Herstellung eines Produktes - auch die Zeit bestimmt, nach der sich das investierte Kapital durch gewinnbringen den Verkauf 'rentiert', war die Viehzucht vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion aus betrachtet immer schon eine äußerst fragwürdige Angelegenheit.

"Was den Viehstand angeht, wollen wir einfach fragen: Wie ist der Umschlag zwei- und drejähriger Schafe und vier- und fünfjähriger Ochsen zu beschleunigen?"(W. Good, Landwirtschaftsexperte des 19. Jahrhunderts, zit. Karl Marx, MEW 24, S. 238)

Die Menschheit mit vielen wohlschmeckenden Schnitzeln zu versorgen, war also das Anliegen dieses Agrariers nicht. Für den Standpunkt des Gewinns bedeutet hier die Dauer der Aufzucht ein Ärgernis: Seine Sorge gilt der Natur des Gebrauchswerts, der großgezogen wird, weil er für den Zweck der Produktion von Gewinn ein Hindernis darstellt. Diese widrige Abhängigkeit von Naturbedingungen ließ auch damals schon die Landwirte nicht ruhen, wie Karl Marx zu berichten weiß.

"Es ist natürlich unmöglich, ein fünfjähriges Tier vor dem Ende von fünf Jahren zu liefern. Was aber innerhalb gewisser Grenzen möglich, das ist, durch veränderte Behandlungsweise Tiere in kürzerer Zeit für ihre Bestimmung fertigzumachen. ... Durch sorgfältige Zuchtwahl reduzierte Bakewell, Pächter von Dishley Granee, das Knochenskelett der Schafe auf das zu ihrer Existenz notwendige Minimum. Seine Schafe hießen New Leicesters. 'Der Züchter kann jetzt drei Schafe auf den Markt liefern in derselben Zeit, in der er früher eins fertigstellte, und das in breiterer, runderer, größerer Entwicklung der am meisten Fleisch gebenden Teile. Fast ihr ganzes Gewicht ist pures Fleisch' (Lavergne)." (ebd., S. 240)

Der Fortschritt

ist jedoch -- ohne Mr. Bakewells persönliche Verdienste schmälern zu wollen, muß dies festgestellt werden - auf diesem Gebiet unverkennbar. Er und seine runden Schafe würden sich wundern, könnten sie einen Blick in das Inferno eines bundesdeutschen Schweinestalls anno 1980 werfen:

"Wenn Schweine, damit es sich lohnt, innerhalb von 180 Tagen zu Zwei-Zentner-Fleischbergen hochgepäppelt werden, wächst das Knochengerüst nicht schnell genug mit, die Tiere brechen häufig unter dem eigenen Gewicht zusammen. ... Wenn jemand die Stalltür allzu heftig schließt, fällt schon mal ein Schwein, vom Herzinfarkt getroffen, tot um." (Spiegel, 44/1980)

Die 'Behandlungsweise', Tiere 'in kurzer Zeit' 'fertigzumachen', besteht heutzutage im Einsatz von Chemie im Stall. Medikamente und chemische Substanzen aller Art machen es möglich, das liebe Vieh in großem Maßstab so schnell so fett zu päppeln, daß 'es sich lohnt'. Neben prophylaktischen Antibiotikagaben und Masthilfsmitteln wie MTU (Schilddrüsenhemmer) wird als neueste Wunderdroge zur Zuchtbeschleunigung in der Kälbermast synthetisches Östrogen (DES) gespritzt. Resultat für den Landwirt: in kürzerer Zeit bei gleicher Futtermenge Tiere mit bis zu 20% mehr Fleisch - in DM: beim Kalb durchschnittlich 80 DM mehr pro Tier. All diese Wundermittel haben die unangenehme Eigenschaft als gesundheitsschädliche Rückstände im Fleisch zu verbleiben. Zur Freude des Essers tummeln sich darin Beta-Blocker, Tranquilizer, Anabolika, Antibiotika, Hormone und ähnlich schmackhafte Substanzen.

"Die Moral von der Geschichte... ist die, daß das kapitalistische System einer rationellen Agrikultur widerstrebt..." (Marx, MEW 25, S. 131)

Die rentierliche Anlage von Kapital stößt in der Landwirtschaft nämlich auf natürliche Schranken - und die Mittel, die gemäß der kapitalistischen Rationalität des Profits eingesetzt werden, um sie zu überwinden, leisten dies durch die Zerstörung des Gebrauchswerts der Produkte.

Auf der Grundlage dieser kapitalistischen Rationalität läßt sich dann auch aus der gesunden Aufzucht (im Gegensatz nicht etwa zur kranken) eine besondere Delikatesse für Leute machen, die es sich leisten können, für "unübertroffene Fleischqualität" eine Menge Geld auszugeben. Otto Normalverbraucher dagegen kann, so die ZEIT, dem Gift nicht entkommen, weil es sein muß.

"Wie so oft im Leben, kollidieren zwei Wünsche: jener nach möglichst bllliger, zeitlich und mengenmäßig umfassender Versorgung mit Nahrungsmitteln und jener nach generell schadstoffreier, gesunder und schmackhafter Kost. Billige Massenproduktion aber... ist ohne Chemie nicht möglich." (ZEIT, 14.11.1980)

Daß der Wunsch des "Verbrauchers" nach "gesunder und schmackhafter Kost", die es nur in den teuren Feinschmeckerläden gibt, an dessen Geldbeutel scheitert, was in ihm natürlicherweise den "Wunsch " nach Billigprodukten erweckt, ficht den Schreiber nicht an. Ebenso selbstverständlich, wie Lebensmittel für die Massen billig zu sein haben, wächst aus ihnen quasi naturwüchsig die Menge der Schadstoffe.

Der Östrogenskandal

besteht also zweifellos nicht in der reichlichen Versorgung der Bevölkerung mit Giften, die da plötzlich und unerwartet enthüllt worden wäre. Im Gegenteil, diese "perfekt geregelt" zu haben, gereicht unserem Staat zur Ehre.

"Im Lebensmittel-, im Arzneimittel-, im Fleischbeschau- und Futtermittelgesetz ist nahezu alles perfekt geregelt: ... welche Mengen von Schadstoffen im Fleisch höchstens noch enthalten sein dürfen; ... wieviel Prozent der Schlachttiere auf Rückstände untersucht werden müssen; welche Zusätze zu Futtermitteln erlaubt sind." (SPIEGEL 44/1980)

Ebenso wie Schadstoffe am Arbeitsplatz gehören die im Fleisch zum "allgemeinen Lebensrisiko einer Industriegesellschaft", das der Staat seinen Bürgern zuzumuten gedenkt und auf deren Ausmaß er per Festlegung von Zumutbarkeitsgrenzen ein Auge hat. Das künstliche Östrogen, eine Krüppel erzeugende Substanz, bei der Mast zu verwenden, ist verboten - das Mittel auf den Schwarzmärkten der Republik, die sich zufällig in der Nähe jeder Kälbermästerei finden lassen, für ein paar Mark erhältlich. Freimütig bestätigt ein Referent im Landwirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalens:

"Wir müssen davon ausgehen, daß zumindest die großen Betriebe alle mit den verbotenen Östrogenen arbeiten." (SPIEGEL, 44/1980)

Alle Jahre wieder führen die spärlichen Kontrollen zu positiven Befunden, in der Öffentlichkeit kaum registiert und mit geringen Geldbußen geahndet. Erst die spektakuläre Aktion eines italienischen (ausgerechnet!) Provinzrichters, der wegen des DES den Verkauf von Kalbfleisch in ganz Italien verbot (und dort deshalb als 'il coraggioso', der Tapfere, gefeiert wird), erregte Aufmerksamkeit und Befunde in Babynahrung die Gemüter - der Verbrauch von Kalbfleisch ging mittlerweile um 50% zurück. Grund genug für unsere freie Presse, ihr demokratisches Wächteramt wahrzunehmen, einen Östrogenskandal auszurufen

und seine öffentliche Bewältigung

in Angriff zu nehmen. Diese beginnt mit der beschwichtigenden Feststellung, so spektakulär sei die ganze Angelegenheit auch wieder nicht. Stolz verweist der SPIEGEL darauf, sie schon 1971 in dem Artikel "Gift auf den Tisch" aufgetischt zu haben/und die ZEIT konstatiert ungerührt:

"Insider wissen ohnehin seit langem, daß nämlich im gesamten Bereich der Mast, vor allem also beim Schwein, aber auch beim Geflügel, auch beim Rind, eine Fülle von unkontrollierten Chemieprodukten zum großen Teil illegal verwendet werden."

Dies hindert sie keineswegs daran, auf der Suche nach den Schuldigen für das Östrogen im Kalb die Idylle einiger "schwarzer Schafe" unter den Bauern zu entwerfen, die "viele untadelige Kälbermäster und Landwirte, die sich an die Gesetze halten", in Verruf bringen. Die Schattenseite der bekannten Schlitzohrigkeit des Bauernvolks wird wieder einmal beleuchtet und den Deliquenten als verwerfliche Geldgier vorgerechnet. (So heißt das edle Gewinnstreben immer, wenn die 'Streber' dem Auge des Gesetzes unangenehm aufgefallen sind, ihr Tun infolgedessen als Verstoß gegen die über jeden Zweifel erhabenen "Prinzipien unserer Marktwirtschaft" und sie selbst als zwielichtige Figuren zu entlarven sind.)

Bei der Beantwortung der Schuldfrage zweiter Teil, wie die so als "Giftmischer der Nation" entdeckten Bauern "zu diesen Drogen kommen konnten", kann die bundesdeutsche Presse allerdings dem Staat den harschen Vorwurf nicht ersparen, seine Aufpasserrolle vernachlässigt zu haben. Der gute Wille der Gesundheitspolitiker zum "Verbraucherschutz", der in all den schönen Vorschriften über den zulässigen Grad der Vergiftung von Fleisch zum Ausdruck gekommen sein soll, "scheitert" kläglich bei der Kontrolle ihrer praktischen Durchsetzung. Der SPIEGEL schmückt dazu das zu einem bewegenden Drama "machtlose Behörden im Kampf gegen Mafia aus Großmästern, Tierärzten, Futtermittelhändlern und Pharmaindustrie" aus und beweist mit seiner Auflistung von staatlichen Versäumnissen -

"Gezielte Rückstandsuntersuchungen gibt es gegenwärtig nur "für einen "Bruchteil der gesundheitsschädlichen Substanzen." "Die nötigen Untersuchungsmethoden" wurden nicht entwickelt. Den Tierärzten machen die "Gesetze die krumme Tour leicht... Laut Arzneimittelgesetz" dürfen sie Medikamente "selbst verkaufen,... was einige Vertreter dieser Zunft weidlich zum großen Geldverdienen nutzen".

Wenn sie "wirklich einmal erwischt werden,... dann zahlen die nur allzugern ein Bußgeld von 10.000 Mark". "70% des Umsatzes der Pharmaindustrie mit Tierarzneimitteln geht" direkt oder indirekt an "den Schwarzmarkt mit den illegalen Mitteln." (SPIEGEL, 44/1980)

Punkt für Punkt nur, daß die Politiker den Bauern das Geschäft mit dem Einsatz der Zuchtbeschleuniger inklusive des verbotenen Östrogens nicht verderben wollen.

Die Politiker: Der bester Verbraucherschutz...

Der Vorwurf nachlässiger Kontrolle bietet den zuständigen Figuren die treffliche Gelegenheit, sich als ausgefuchste Kontrolleure in Szene zu setzen. Gesundheitsministerin Antje Huber hält die

"bestehenden Gesetze" für "klar und eindeutig..., die strengsten der Welt",

und verweist auf die Zuständigkeit der Länder für die "überwachung und Einhaltung der Gesetze". Bayerns CSU-Tandler gibt, nicht faul, den schwarzen Peter umgehend zurück. Er hat in seinem Freistaat für "schärfere Kontrollen als anderswo" gesorgt und fordert vom Bund noch "schärfere Gesetze". Bei soviel gegenseitiger Scharfmacherei ist die kongeniale Auflösung des Streits durch das Duo Huber/Tandler nicht überraschend.

"Man kann nicht neben jedes Kalbsschnitzel (jede Kuh) einen Polizisten stellen." (Tandlers Version in Klammern)

Diese Heuchelei ernstgenommen, könnte die Polizei auch ihre Rauschgiftdezernate weitbehend auflösen! Aber der Verweis auf die Unmöglichkeit der "totalen Kontrolle" bildet ja sowieso nur den offensiven Auftakt zu der fälligen Abwiegelungskampagne.

"Man ißt nicht jeden Tag Kalbsschnitzel. Es besteht keine akute Gefahr." (Huber)

Richtig: Von einseitiger Ernährung mit Östrogenen ist abzuraten, auf die richtige Mischung mit Anabolika und Beta-Blockern kommt es an. Auch in Sachen "Drogen" ist eben eine abwechslungsreiche Kost die Garantie für Gesundheit und langes Leben!

"Auch liegen Beobachtungen über carcinogene Wirkungen beim Menschen bei solch niedrigen Konzentrationen nicht vor." (Bundesgesundheitsamt BGA, SPIEGEL, 46/1980)

Weil die Wirkungsweise des DES nicht erforscht, die krebserzeugende Wirkung aber erwiesen sei, stellt ein Toxikologe des BGA fest, kein "Wert, wie winzig auch immer, sei völlig ungefährlich", weshalb auch kein Grenzwert für eine unbedenkliche Minimaldosis aufgestellt werden könne. Die offizielle Verlautbarung des BGA zieht aus demselben Sachverhalt die entgegengesetzte Schlußfolgerung: Da carcinogene Wirkungen bei niedriger Dosierung noch nicht "beobachtet" wurden, hat damit zweifelsfrei festzustehen, daß ihr mögliches Auftreten keinen Grund zur Beunruhigung abgibt. Dieses "minimale Risiko" ist also in Kauf zu nehmen. Aber Kreuzzüge gegen das Rauchen führen und die Tatsache, daß man soviel Gifte für zulässig erklärt hat, als Beruhigungsmittel anbieten!

...ist der Schutz des Verbrauchers vor Panikmache

Andererseits - was der Bürger nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Da im Grunde die Sache mit den Giften schon ihre Ordnung hat, liegt die eigentliche Gefahr in der "maßlosen Übertreibung" durch die Öffentlichkeit, die den Bürgern unnötig "heillosen Schrecken" einjage: Die "Panikmache" (Tandler) der Presse ist es daher letztlich, vor der der Verbraucher in Schutz genommen werden muß. In Übereinstimmung mit den Länderministerien beschloß daher Frau Huber, um solche Ärgernisse in Zukunft von vornherein auszuschließen, von nun an

"Verstöße gegen das Lebensmittelrecht nur noch dann bekanntzugeben, wenn eine unmittelbar drohende Gefahr abgewendet werden muß."

Diesen Beschluß inopportunerweise 'bekanntgegeben' zu haben, als die öffentliche Debatte über die "drohende Gefahr" noch in vollem Gange war, war der kleine faux pas des Staatssekretärs Wolters, den er und seine Ministerin zum Anlaß nahmen, sich in bestem Einvernehmen zu trennen. Während Wolters also nicht eigentlich als Leidtragender des Skandals zu betrachten ist - "Ihm war es recht, er mochte ohnehin nicht mehr", weiß der SPIEGEL zu vermelden -, stehen als die eigentlichen Opfer inzwischen die Bauern fest. Der Preisverfall des Kalbfleischs aufgrund des "Boykotts der aufgescheuchten Verbraucher" veranlaßte die Brüsseler EG-Kommission, "immer eine verläßliche Helferin, wenn landwirtschaftliche Erzeuger in Not sind,... mit Billigung des deutschen Landwirtschaftsministers Ertl, das von den Verbrauchern jetzt verschmähte Kalbfleisch auf Kosten eben derselben einzulagern." (ZEIT, 14.11.1980)

Das entspricht den üblichen Gepflogenheiten des EG-Agrarmarktes bei "gestörten Marktmechanismen": Die 20.000 Tonnen Kalbfleisch incl. Östrogen werden solange aus dem Verkehr gezogen, bis der Verbrauch und damit die Preise wieder anziehen. Aufgrund der etwas ungewöhnlichen Umstände brach allerdings ob dieser Aktion ein Streit n der Regierung aus, der den letzten, die praktische Maßnahme trefflich ergänzenden Akt der öffentlichen Bewältigung des Skandals bildete. Ertl machte sich einmal mehr bei den Bauern als ihr mutiger Fürsprecher beliebt; der Rest der Regierung empört sich öffentlich über diesen "Alleingang" "gegen den erklärten Willen" des Kabinetts und nimmt entschieden Partei für den "hilflosen Verbraucher". So geht eben politische Arbeitsteilung.

Erfreulicherweise zeichnet sich am politischen Horizont bereits ein Kompromiß in diesem häßlichen Streit ab, der allen Seiten gerecht zu werden verspricht. Frau Huber will nunmehr dem Östrogenskandal ein Ende setzen, indem sie trickreich durch die Aufhebung des Östrogenverbots und die Festsetzung eines Maximalwerts an Hormonrückständen den Einsatz von DES aus der "Grauzone der Kriminalität" holt.

So können sich zuguterletzt Landwirte und Verbraucher gemeinsam an diesem Stück Lebenskraft erfreuen.

2.2 Kalbfleisch und andere Genüsse
(aus: MSZ 1988-09)

Gift gehört zum Geschäft

Seit ein paar Wochen gilt hierzulande der Genuß von Kalbfleisch als gesundheitsschädliche Angelegenheit. Das liegt nicht daran, daß sich die Qualität des in bundesdeutschen Läden verkauften Kalbfleisches in der letzten Zeit verschlechtert hätte. Die Benutzung der "Hormon-Mixturen" in der Kälbermast, die der nordrhein-westfälische Landwirtschaftsminister Matthiesen in etlichen tausend Kälbern aufspüren ließ, ist genau seit Januar 1988 in der EG verboten. Der Kalbsbraten zum letzten Weihnachtsfest ging also - Östrogen hin, Testosteron her - gesundheitspolitisch auf jeden Fall in Ordnung, wenn das Fleisch aus einem EG-Nachbarland kam. Bis Ende '88 sind übrigens Hormone in Fleisch aus Großbritannien und den USA völlig unbedenklich.

Die Hormonzufuhr pro kg Kalbfleisch ist in der BRD auch nach Sylvester '87 nicht geringer geworden. Geschäftstüchtige Tiermast-Unternehmer haben Mittel und Wege gefunden, an ihren bewährten kostensenkenden Zuchtmethoden festzuhalten. Und das soll eine "fürchterliche Entdeckung" sein?! Als ob nicht längst bekannt wäre, daß man in unserer Marktwirtschaft in sämtlichen Lebensmitteln irgendwelche Gifte oder sonstigen Dreck finden kann, wenn man nur die entsprechenden Kontrolluntersuchungen durchführt. Eine kleine Auswahl zur Erinnerung an die "Lebensmittelskandale" der letzten Monate gefällig?

Die ganz alltägliche Dosis...

Usw. usw....

Die Liste läßt sich beliebig verlängern. Insgesamt eine schöne Latte von Ursachen für Krebserkrankungen, Allergien und alle möglichen anderen "geheimnisvollen Zivilisationskrankheiten" - die die Menschheit ganz gratis über die tägliche Ernährung verabreicht kriegt.

Ein Geheimnis ist das alles nicht. Das mittlerweile gängige Mißtrauen gegen in Supermärkten angebotene Lebensmittel hat sich immerhin für einen eigenen Geschäftszweig ausnutzen lassen. Jeder Supermarkt hat inzwischen "garantiert natürliche Bio-Lebensmittel" im Regal. Von denen erfährt man dann bei Gelegenheit, daß sie Giftquoten enthalten, die auch nicht ohne sind. Denn abgesehen davon, daß "natürlich" und "ungiftig" noch lange nicht dasselbe ist, wo soll es denn mitten in einer hochkarätigen kapitalistischen Produktionslandschaft ein Fleckchen "unberührte" Natur geben?!

...und wer sie verabreicht

Egal, für welche Ernährung "König Kunde" sich entscheidet, die Liste der gängigen Schadstoffe steht für alle Nahrungsmittel längst fest, und einschlägige "Skandale" hat jede Lebensmittelbranche vorzuweisen. Da ist es schon reichlich dreist, wenn Politiker, Öffentlichkeit und Wirtschaftsverbände bei jedem neuen "Lebensmittelskandal" behaupten, es wären mal wieder die berühmten "leider unvermeidlichen schwarzen Schafe" und "Verbrecher" entlarvt worden. Das Schöne an einem echten "Skandal" ist ja, daß er immer die Ausnahme von einer an sich erstklassigen Lebensmittelindustrie im Dienste des Verbrauchers sein soll. Dabei geben sämtliche verantwortlichen "Skandal-Aufklärer" noch regelmäßig zu Protokoll, daß sich die Produktion von ekel- bis krebserregenden Lebensmitteln immer ein und demselben Interesse verdankt. Die Kalkulation, wieviel DM Ersparnis der Einsatz von Hormonen einem Zuchtunternehmer pro Kalb bringt, konnte man in jedem Bericht zum "Kälber-Skandal" nachlesen. Und diese Sorte Berechnung soll eine Ausnahme in unserer Marktwirtschaft sein?? Da lachen ja die Hühner in sämtlichen Legebatterien!

Warum sollte es ausgerechnet bei der kapitalistischen Produktion von Lebensmitteln um die Bedürfnisse der Verbraucher gehen? Aus dem Bedürfnis nach Ernährung wird ein Geschäft gemacht, Lebensmittel sind Geschäftsmittel. Also wird ihre Produktion streng nach den Bedürfnissen der marktwirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit kalkuliert. Kostengünstig muß das Zeug sein. Deshalb werden alle Methoden der Verbilligung der Produktion angewandt. Auf die Gesundheitsverträglichkeit der Produkte kann dabei logischerweise keine übermäßige Rücksicht genommen werden, von ihrer Schmackhaftigkeit ganz zu schweigen.

Rücksicht genommen werden muß dagegen auf die jeweils neuesten Richtlinien aus Brüssel und Bonn. Geschäftstüchtige Agrar-Unternehmer müssen schließlich wissen, welche Stoffe und "Zuchthilfen" die Politiker gerade mal wieder für nicht mehr - oder nur noch in Grenzen - hinnehmbar halten. Sobald ein Stoff gesetzlich verboten ist, wird nach einem Ersatzstoff gesucht, der die gleichen kostensenkenden Eigenschaften hat, aber schwieriger nachzuweisen ist. Wenn so was dann mal wieder ans Tageslicht kommt, schreien Politiker: "Mafia, kriminelle Elemente!". Eine erstklassige Heuchelei, gegen das Geschäftsinteresse, das sich dauernd solche Mittel sucht, will ja keiner was gesagt haben. Und gegen die Mittel auch nur dann, wenn sie irgendwann mal in eine Verbots-Liste aufgenommen worden sind. Im Gegenteil, das Geschäftsinteresse wird von der Politik nach Kräften gefördert. Landwirtschafts- und Wirtschaftsminister setzen alles daran, daß ihre heimischen Agrarbetriebe weltweit konkurrenzfähige Produkte auf den Markt bringen. Die sind dann auch danach.

König Kunde

Dem Lebensmittelkonsumenten bleiben drei Möglichkeiten: Entweder er findet sich mit seiner schleichenden Vergiftung ab und frißt, was auf den Tisch kommt. Jede Umstellung des Speiseplans nach den Erkenntnissen des gerade aktuellen "Lebensmittelskandals" wird sowieso garantiert durch die nächste " Enthüllung" blamiert. Oder man legt tatsächlich Wert auf eine Versorgung mit bekömmlicher Nahrung. Dann muß man entweder die Ernährung einstellen - oder man sorgt dafür, daß das ehrenwerte Geschäftsinteresse verschwindet, aus allem und jedem - also auch aus der Produktion von Lebensmitteln - einen Gewinn zu erwirtschaften. Eine ordentliche Planwirtschaft, in der es tatsächlich um die Qualität der Produkte geht und nicht um marktwirtschaftliche Wachstumsraten, wäre überhaupt die Lösung für alle einschlägigen "Verbraucher-Probleme". Aber das wäre ja Kommunismus - und den will natürlich kein anständiger Mensch. Am allerwenigsten Politiker, wenn sie sich als "Retter der Verbraucher" betätigen.

Unsere Politiker - die Skandalmacher

Hiesige Politiker sind sich sicher, daß sie nur scharfe Kontrollen anordnen müssen, wenn sie irgendwelche gesetzeswidrigen "Rückstände" in Nahrungsmitteln nachweisen wollen. Sie können also ziemlich frei entscheiden, ob, wann und welches Produkt sie zum "Skandal" erklären wollen. Diese Leute kennen schließlich die Sorte Produktion, die sie fördern, und die Grenzwerte haben sie selber festgelegt. Der nordrhein-westfälische Landwirtschaftsminister Matthiesen hat sich das diesjährige "Sommerloch" und das Kalbfleisch ausgesucht, um einen Skandal zu entfachen. Wieder einmal wird die verlogene Botschaft unter die Leute gebracht: Die Politik kämpft gegen "verbrecherische Umtriebe", die sämtlichen sauberen Regeln der Marktwirtschaft widersprechen. Stinknormale münsterländische Unternehmer werden über Nacht zu "Mitgliedern einer internationalen Drogen-Mafia", damit sich ein Matthiesen um so strahlender als "Rächer aller Kälber und Verbraucher" in Szene setzen kann.

Übrigens beherrschen Politiker bei anderen Lebensmittel-Vergiftungen die ganze Sache auch umgekehrt. Wo es ihnen darauf ankommt, wird dem Volk die "Restrisiko-Logik" verkauft. Die geht bekanntlich so: "Angesichts des geringen Verzehrs von xy pro Normalverbraucher und Jahr ist die Schadstoffkonzentration als unbedenklich zu betrachten. Darüber hinaus konnte auch bei höheren Konzentrationen von der Wissenschaft kein eindeutiger Gesundheitsschaden festgestellt werden." Sämtliche radioaktiv verseuchten Lebensmittel der letzten Jahre wurden von den maßgeblichen Stellen so kommentiert. Diese Sorte Beschwichtigung ließe sich selbstverständlich auch auf die Hormone im Kalbfleisch anwenden: "Wieviel Kalbfleisch ißt ein Mensch schon im Jahr - und Hormone hat der Mensch auch von Natur aus!" Je nach politischem Bedarf wird auf- oder abgewiegelt. Mit dem Grad der Vergiftung von irgendeinem Fraß hat diese Entscheidung meist nichts zu tun. Deshalb kann auch nach zwei Wochen hellster Aufregung ums "Gift, im Kalb" die Angelegenheit ohne weiteres wieder zu den Akten gelegt werden.

Warum der nordrhein-westfälische Landwirtschaftsminister gemeint hat, er müßte der Öffentlichkeit einen "Kalbsskandal" liefern - da steigt man als kleiner Endverbraucher von Kalbfleisch und Politik nie ganz durch. Eins ist aber schon auffällig: Matthiesen hat, obwohl er doch lauter deutsche Kälber am Wickel hatte, die ganze Angelegenheit heftig dazu benutzt, vor holländischen Fleischimporten zu warnen. Der Verbraucher muß sich angeblich ganz besonders vor holländischem Fleisch hüten, das Matthiesen nach der Einführung des europäischen Binnenmarkts nicht mehr kontrollieren lassen darf. Auffällig ist auch, daß dem Verbot von Hormonen in der Tiermast ein jahrelanger Streit innerhalb der EG-Staaten vorausgegangen ist. Die europäischen Partner - vor allem England - haben darin einen Anschlag der BRD auf ihre Fleischexporte gesehen. Das EG-weit durchgesetzte Verbot paßt außerdem wunderbar zu einer europäischen Konkurrenzkampagne gegen US-Fleischlieferungen. Dort ist der Einsatz von Hormonen in der Tiermast nämlich weiter völlig legal. Das europäische Verbot bedeutet deshalb ein Einfuhrverbot für US-Rindfleisch.

So darf der Verbraucher mit seiner "gerechten Empörung" den Statisten spielen für wirtschaftspolitische Konkurrenzmachenschaften zwischen Exportnationen.

2.3 Dioxin-Skandal in Belgien
(aus GS 1999-03)

Geschäft vergiftet die Nahrung – Was interessiert? Die Schuldfrage!

Ende Mai wird in Belgien amtlich, was den dortigen Behörden schon seit März "noch ohne gesicherte Erkenntnisse“ bekannt war: Hühner und Eier sind massenhaft mit krebserregenden Dioxinen verseucht. Öffentlichkeit und Politik rufen die "größte Lebensmittelkrise seit BSE in Europa“ aus, zumal in der Folgezeit weitere Lebensmittel als hochgradig vergiftet geoutet werden: Schweine, Rinder, Milchprodukte und deren Derivate – alle versaut über industrielles Tierfutter. Die Presse, die sich einerseits an drastischen Titeln überbietet – "Lebensmittel – Zugabe aus Sondermüll“ (Spiegel); "Giftmüll auf dem Teller“ (stern) –, um diesen erneuten Fall von Nahrungsvergiftung als besonderen Skandal hervorzuheben, weiß andererseits in Nullkommanichts über die Vergiftungskette Bescheid. Sie berichtet davon, daß als Sondermüll zu deklarierende Abfallprodukte der Lebensmittelproduktion üblicherweise und ganz legal als Tierfutter genutzt werden, und läßt auch die aufgescheuchte Verbraucherschaft nicht im Unklaren über den Grund:

Die Vergiftungsursache: Lebensmittelproduktion ist ein Geschäft

Daß eine Nahrungsmittelproduktion, deren ganzer Zweck darin liegt, die Lebensmittel als Ware für den profitablen Verkauf zu produzieren, auf die Verträglichkeit der Konsumgüter keine Rücksicht nimmt – "Es kann einem beim Essen nur noch schlecht werden“ (alle) –, so daß dem Konsumenten die freie Wahl bleibt zwischen gesundheitsgefährdenden und mehr oder weniger unbekömmlichen Lebensmitteln, dieses Eingeständnis liefern die Brennpunkte auf allen Kanälen freimütig ab. Nichts wird in der prompt einsetzenden Aufklärungskampagne verschwiegen:

"Es gibt Tausende von Lebensmittelgiften."

Und ebenso bekannt ist auch der Grund, der im System der Kostpreissenkung, Umschlagbeschleunigung des eingesetzten Kapitals und kostensparenden Abfallverwertung liegt:

"Den meisten Bauern ist es ohnehin egal, was im Futter drin ist, solange es preiswert ist, Infektionen im Stall vorbeugt und die Hähnchen rechtzeitig schlachtreif macht. Meist hat der Mäster beim Einsetzen der Küken in die Masthalle den Termin im Schlachthof schon gebucht für Masthähnchen, die ihr Gewicht in 35 Tagen versiebenunddreißigfachen sollen.“ (Stern)

So geht es wohl, das Geschäft mit Nahrungsmitteln, bestens recherchiert, aufgeschrieben und illustriert in ellenlangen Artikeln und Sendungen – und was folgt daraus? Wenn die Vergiftung der Nahrung System hat, notwendig aus der sachgerecht angewandten kapitalistischen Rechnungsweise folgt, schmeißen wir dann das System weg? Eine aufgeregte Zeit lang werden lieber die Eier weggeworfen und man warnt entschieden vor allzu radikalen Konsequenzen:

"Sollen wir für jedes Stück Fleisch die Gifte messen und die alle überprüfen? Dann würde kein Mensch mehr die Lebensmittel kaufen. Dann müßten wir alle verhungern." (Ein Sprecher der EU-Kommission in den tagesthemen).

Bei aller ausufernden Kenntnis der regelmäßigen Lebensmittelskandale und dementsprechend verbreiteten Geschäftspraktiken sind sich Politik, Öffentlichkeit und die hartgesottenen Einwohner dieses Systems aus dem Stand heraus sicher, daß davon nie und nimmer ein schlechtes Licht auf dieses Geschäft und seine Prinzipien fallen kann, geschweige denn, daß ihnen bei der Gelegenheit ein Schimpfname wie "System“ einfallen würde. Mit drei schlichten Kunstgriffen sind sie ganz woanders angekommen, bei drei bis vier Schuldigen nämlich, denen ihre ganze schnelllebige Empörung gilt. Praktischerweise gibt es den Maßstab nämlich schon, anhand dessen sie wissen, in welche Richtung sie sich auf- und abzuregen haben: Medien und Publikum betätigen sich als ehrenamtliche Fahnder und suchenVerbrecher. Denn:

Vergiften ist schließlich verboten!

Zuständig sind die Behörden, der Gesetzgeber, der so etwas als Verbrechen definiert, und seine Justiz, die die Verbrecher dingfest zu machen hat. Daß diese Instanzen ihres Amtes walten, spricht für die prinzipielle Fürsorge, derer sich der Bürger gewiß sein darf, also fürs System, und schon ist eine erste Unterscheidung getroffen zwischen guter Regel und skandalöser Ausnahme.

Dabei ist doch auffällig genug, was der Staat alles zu verbieten hat. Wie das Geschäft mit der profitablen Vergiftung vonstatten geht, darüber weiß der Staat vor allen anderen Bescheid. Die Liste seiner Verbote ist nicht zufällig so lang wie die der Lebensmittel selbst, Vergiftung findet eben laufend statt. Von wegen also, der aktuelle Fall der Dioxin-Verseuchung von Futtermitteln und deren Folgeprodukte in der Nahrungskette wäre eine Ausnahme. Mit seiner umfänglichen Verbotsliste dokumentiert der Staat die Normalität einer dementsprechend rücksichtslosen Produktion – sowie die Rücksichten, die er auf die Geschäftsinteressen der Agenten dieser Produktion nimmt: Wenn er "zulässige Grenzwerte“ an Giften in der Nahrung ansetzt, genehmigt immerhin er selbst den geschäftsmäßigen Umgang mit Giften in der Nahrung; und mit der Kategorie "durchschnittliche Belastung“ der Bevölkerung definiert er ein Maß erlaubter, also normaler Vergiftung. Soweit erklärt er die Sache mit dem Gift für ganz in Ordnung. Nicht in Ordnung geht es, wenn die "täglich tolerierbare Aufnahme“ an Giften durch "übermäßige“ Belastung diverser Lebensmittel wesentlich überschritten wird. Das ist dann verboten.

Dafür, daß nur genießbare Lebensmittel auf den Markt kommen, sorgt die gesetzgeberische Einschränkung der Geschäftspraktiken also keineswegs, wohl aber dafür, daß sich beim regelmäßigen Eintreten von Skandalen der Bürger über die kriminelle Energie einzelner verbrecherischer Geschäftemacher aufregen darf. Daß die verfolgt gehören, darin darf sich der Untertan mit seiner Obrigkeit einig werden. Die erklärt ihm, daß seine Sorgen bei ihr bestens aufgehoben und sie alles unter Kontrolle hat, und eröffnet ihm damit ein weiteres Feld der Empörung, das nun schon himmelweit entfernt ist vom Ausgangspunkt der Affäre, dem Gift im Essen, und erst recht von ihren Ursachen, der kapitalistischen Nahrungsmittelproduktion: Die Staatsmacht verleiht ihren Verboten nicht ausreichend Nachdruck, ihre Beamten vernachlässigen ihre Aufgaben.

Ungenügende Kontrollen!

Dabei ist es durchaus so, daß von Staats wegen umfassend und gründlich kontrolliert wird. Das ist nur nicht dasselbe wie die Verhinderung von Gift im Essen. Der Staat, der mit seinen umfänglichen Kontrollen selbstverständlich davon ausgeht, daß seine Kapitalisten ziemlich flächendeckend für gesundheitsschädliche Lebensmittel sorgen, belehrt seine Bürger denn auch gleich darüber, warum Augenmaß nicht nur bei der Festsetzung, sondern auch bei der Überwachung von Grenzwerten geboten ist:

"Wenn man jedoch Reihenuntersuchungen auf Dioxine machte, würden die Futtermittel so teuer, daß sie ihren Kostenvorteil einbüßen würden.“ (stern)

Die Alternative, Gifte in Lebensmitteln überhaupt, grundsätzlich und ohne jede Ausnahme zu verbieten, kommt schlicht und ergreifend deswegen nicht in Betracht, weil damit allzuviel Geschäften der Hahn abgedreht würde. Und so kommt in Gestalt der gebotenen staatlichen Rücksichtnahme aufs Gewinnemachen dann doch wieder der schlichte Ausgangspunkt zur Sprache: Das kapitalistische Geschäft, das ein kategorisches Verbot nicht verträgt.

Auch mit den Kontrollen darf es der Staat also nicht übertreiben, sonst liefe gar nichts an Geschäft. Und der kurze Hinweis darauf, daß Kontrollen ihrerseits Kosten verursachen, die vernünftigerweise weder den Lebensmittelproduzenten aufzubürden noch dem Staat zuzumuten sind, dieser Appell an die haushälterische Vernunft des Bürgers vervollständigt das Bekenntnis zu dem Irrwitz des Geld-Systems, das einerseits die Herstellung ungenießbarer Lebensmittel aus Profitgründen unumgänglich macht, damit andererseits die staatliche Überwachung auf den Plan ruft und drittens die Überwachung im Namen der Staatsfinanzen in Grenzen halten muß.

Zusätzlich gibt der derzeitige Minister zu bedenken, daß beim allseitigen Ruf nach Kontrolle ein weitaus gewichtigerer Wert nicht unter die Räder geraten darf – die Freiheit, die wir doch über alles schätzen: "Sollen wir jedes Fabriktor kontrollieren? Das wäre ein Polizeistaat.“ Im Rahmen der grundvernünftigen Organisation von marktwirtschaftlicher Kostensenkungsphantasie auf der einen und nachträglicher staatlicher Kontrolle auf der anderen Seite steht zwar eigentlich jedes Fabriktor unter Verdacht – auch das ein Bekenntnis zur Normalität geschäftsförderlicher Vergiftung –, die systemzugehörige Vernunft verlangt aber, die staatliche Kontrollkapazität nicht überzubeanspruchen. Eine dankenswert deutliche Klarstellung, daß es bei den unschätzbaren Freiheiten in erster Linie um die Freiheit des Geschäfts geht: Bei aller volksgesundheitlichen Bedenklichkeit muß der Staat darauf achten, daß seine staatlichen Verbote und Kontrollen kostenmäßig nicht kontraproduktiv wirken.

Deshalb erhalten dann Ereignisse, bei denen das System maßvoller Kontrollen glatt etwas aufdeckt, erstens den Status von Skandalen, deren ziemlich regelmäßiges Auftreten zweitens bekannt ist: "Schwarze Schafe gibt es immer“ (Minister Funke). Dieselben verantwortlichen Politiker, die eine durchgreifende Kontrolle mit dem bezeichnenden Argument ablehnen, daß dadurch das System profitabler Nahrungsmittelproduktion unverhältnismäßig behindert und beschädigt würde, erklären die erwischten Giftproduzenten jedesmal von neuem zur bedauerlichen, aber leider unvermeidlichen Ausnahme. So daß immer wieder einzelne Schuldige dazu imstande sind, systematisch und flächendeckend das Essen zu versauen. Der naheliegende Gedanke, daß die Ausnahmen dann in gewisser Weise die Regel ausmachen, ist vom Spiegel bis zu Funke freilich auch allen geläufig – bei ihrem Blick auf die dritte Abteilung von Schuldigen:

Die Verbrecher sitzen im Ausland!

"Der Sündenfall bei dem mit Dioxin verseuchten Tierfutter aus Belgien ist vor allem, daß die belgische Regierung es versäumt hat, nicht nur uns, sondern auch die EU-Kommission rechtzeitig zu unterrichten. Dann hätten wir viel früher reagieren können. Jegliche Vorwürfe an die Bundesregierung sind unbegründet.“ (Funke)

"In einem europäischen Binnenmarkt fällt das Versäumnis der einen Regierung auf die Regierungen der Partnerländer zurück.“ (Funke)

Die Verseuchung ist diesem Mann kein Problem. Wer mangelnde Information beklagt, geht – aus guten Gründen – von deren europaweiter, flächendeckender Normalität einfach aus: Im EU-Binnenmarkt gehen fragwürdige Futtermittel in die Nahrungskette verschiedenster Tierarten ein und lösen allseitige Folgeverseuchungen aus. Daher sind alle europäischen Staaten betroffen, denn bei ihnen wird, wenn die Vergiftung bekannt wird, das Geschäft geschädigt und die Volksgesundheit betroffen. Dem tragen sie durch europäische Meldepflichten und Sanktionsandrohungen gegen einzelne Staaten Rechnung. So wird der Skandal zu einem Fall nationaler Konkurrenz darum, wer den Schaden zu tragen hat. Das Bemühen um die Lokalisierung des geschäftlichen Schadens dient dabei als letzte Hilfestellung zum Abregen:

"Alle Proben der in Deutschland überprüften Produkte weisen Konzentrationen auf, die üblicherweise auch in Produkten aus unbelasteten Regionen festgestellt werden.“(Bärbel Höhn, tagesschau 04.06.1999)

Der Hinweis auf die übliche Vergiftung soll als Argument dafür taugen, daß die Vergiftung unter nationaler deutscher Regie bestens unter Kontrolle ist. Das ist zwar absurd – "das meiste ist eh schon gegessen“ oder sonstwo unterwegs in der europäischen Nahrungskette –, aber logisch für nationale Standortverwalter, die zuerst die Sorge um "die Wiederherstellung des Verbrauchervertrauens“ treibt. Der Verbraucher mit seinem Elefantengedächtnis reagiert nämlich wie immer wie ein aufgescheuchtes Huhn und kauft glatt für ein paar Tage weniger Eier. Statt dessen lieber Fisch, weil bei dem von Würmern und Schwermetallen aktuell nichts zu hören ist.

*

So betreibt die europäische Konkurrenz die Eingrenzung des Schadens – auf Belgien. Die dienstbeflissene europäische Öffentlichkeit macht kurzfristig den kompletten Staat als eine einzige Ansammlung von Kinder-und Hühnerschändern zum Thema, Belgien wird auf dem Feld seiner Landwirtschaft durch nationale Alleingänge seiner europäischen Partner wie durch Sanktionen und Strafandrohungen seitens der EU-Kommission geschädigt und die Bewältigung des Vergiftungsskandals auf diese Weise produktiv gemacht für die Standortkonkurrenz in Europa. Damit, daß Belgiens Konkurrenten auf dem Agrarmarkt die Eingrenzung des Schadens auf Belgien durchaus im Sinne ihrer Konkurrenzbedürfnisse betreiben, ist der ganze Fall in eine Sphäre gehoben, in der mit ihm plötzlich noch ganz andere, von der Sorge um bekömmliche Lebensmittel endgültig losgelöste Gesichtspunkte kompatibel werden: Wegen eines Dritten, der mit seinen Fleischexporten auf den europäischen Markt drängt, muß man im innereuropäischen Streit um Schuldzuweisung und Skandalbewältigung auch wieder Maß halten:

"Die Dioxinbelastung ist auf illegales Verhalten zurückzuführen, möglicherweise auch auf kriminelle Machenschaften. Dioxin im Hühnerschenkel ist ein Betriebsunfall, Hormone im Steak sind dagegen in Drittländern ganz legal.“ (Funke)

Dann kann man sich ja wegen der nächsten Giftansage über das Dioxin langsam wieder abregen, Vertrauen in deutsche Politik und europäische Agrarmarktordnung wiedergewinnen und sich über die mit Hormonen vollgepumpten Ami-Fleischberge erregen. So ist das aktuelle Skandalbewußtsein dann ganz auf Linie.
Der Staat tut also, was er kann: verbieten, kontrollieren, informieren, kriminelle Geschäftemacher wie korrumpierte Staaten angehen. Nur, ein letzter Schuldiger muß auch noch namhaft gemacht werden:

Letztlich trägt der Verbraucher die Verantwortung

Denn er hat es als Käufer in der Hand, er ist als Kunde schließlich König und trägt so das Rezept gegen Vergiftung im Geldbeutel: "Der Markt wird es richten“ (tagesthemen). Das ist lustig: Da hat das Gift im Lebensmittel System, und zwar auch unabhängig vom guten oder bösen individuellen Willen einzelner – manchmal regnet es ja Dioxin vom Himmel, wie man hört. Aber der Konsument in seiner Natur als zahlungsfähiger Kunde soll durch geschicktes, sachkundiges Einkaufen dafür sorgen können, daß sich nur noch gutes, gesundes Geschäft lohnt. Statt dessen aber treibt den Verbraucher die

"Lust auf alles. Wir alle greifen auf dem Markt gerne in die Vollen. Und denken nicht daran, daß solcher Appetit mit natürlichen oder herkömmlichen Methoden gar nicht mehr gestillt werden kann – schon gar nicht zu Discount-Preisen. Das ist die Chance für skrupellose Geschäftemacher.“ (Abendzeitung, 09.06.1999) Denn: "Alles haben wollen, und das auch noch billig – das geht eben nicht gesund, wenn keiner mehr zahlen will.“ (SPD-Sprecher, B5-aktuell, 04.06.1999)

"Alles“ kaufen, "in die Vollen“ gehen zu können – wenn das Geld reicht –, das ist Luxus, der für Otto Normalverbraucher nur giftveredelt zu haben ist. Eine bemerkenswerte Klarstellung dazu, wie entwicklungsfähig die grüne Konsumentenschelte ist. Wenn politischerseits ein paar Runden Volksverarmung auf die Tagesordnung gesetzt werden, wird durch die kleine Verschiebung von "wir alle“, von "unserer“ Gier zu den Leuten, die nur "Discount-Preise“ und "nicht mehr zahlen“ wollen, die Schuldfrage zeitgemäß in der Richtung lokalisiert, in der von Staats wegen gerade der 'Wohlstand' für allzu üppig befunden wird: Letztlich sind es die Armen, die die "skrupellosen Geschäftemacher“ auf den Plan rufen. Sie sind die eigentlich Schuldigen, weil sie sich einbilden, daß ausgerechnet sie ausgerechnet mit ihrer jämmerlichen Zahlungsfähigkeit ein Recht hätten, am Reichtum teilzunehmen, der nur einer anders bemessenen Zahlungsfähigkeit zusteht.

Auch eine Auskunft über das System. Und auch die ist kein Skandal, sondern normal.

2.4 "BSE greift auf Deutschland über"
Futtermittelversorgung im Kapitalismus –
Von den Risiken des Profits und den Heilkräften des Marktes
(aus GS 2001-01)

Bis November letzten Jahres waren die Massen in Deutschland mit ihrer Futtermittelversorgung gut bedient. Fleisch, Wurst und Schinken gibt es nicht nur reichlich, sondern auch zu Preisen, die sich dank Tengelmann, Aldi, McDonald’s etc. selbst der proletarische Haushalt leisten kann. Nein, verzichten muss hierzulande niemand auf nichts. Sogar Rindfleisch, das andernorts verseucht ist, kann man bei uns "bedenkenlos" verzehren, denn "Deutschland ist BSE-frei". Gut bedient waren auch die Produzenten und Distributoren der preiswerten und qualitativ hochwertigen Waren. Sie haben gutes Geld verdient: Das Handelskapital mit seinen verbraucherfreundlichen Preiskämpfen um Marktanteile, die Agrarfabriken mit ihren effizienten Produktionsmethoden, die Tierfutterhersteller mit ihren kostensenkenden Energieriegeln und am Ende sogar die bäuerlichen Familienbetriebe, die mit ihrer artgerechten Tierhaltung zwar nicht reich werden, aber immerhin das Kunststück fertig bringen, als Zulieferer einer Landwirtschaftsindustrie zu überleben.

Das alles dank einer EU-Agrarpolitik, die mit milliardenschweren Subventionen zum Erhalt einer nationalen Bauernschaft zwar den Geldbeutel und das Gemüt des Steuerzahlers strapaziert, ihn dafür aber als Verbraucher mit der Kapitalisierung der europäischen Landwirtschaft entschädigt, die mit weltmarkttauglicher Exportware einen Beitrag zu seinem hohen Lebens(mittel)standard liefert. Ein eindrucksvoller Beleg also, dass der Kapitalismus tatsächlich so gut ist wie sein Ruf. Eine anständige Ernährung der Bevölkerung – billig und gut – kriegt das System der 'profitorientierten' Marktwirtschaft allemal hin.

Seit November letzten Jahres ist ein Lernprozess in Gang gekommen, der leider wie immer im Leben auf einer schmerzlichen Erfahrung beruht. Das deutsche Volk ist einer "Legende" auf den Leim gegangen, die ihm Politiker, welche der Agrarlobby hörig sind, eingeflüstert haben: Deutschland sei "BSE-frei", deutsches Rindfleisch "sicher". Es stimmt nicht. Die Prionen haben die Grenze übersprungen, Rinder aus vorbildlichen heimischen Höfen heimgesucht und selbst vor dem bayerischen Hochsicherheitstrakt nicht haltgemacht. Seitdem werden Zweifel laut, ob die Menschen in diesem Land mit ihrer marktwirtschaftlichen Versorgung wirklich gut bedient sind. Von Agrarfabriken, die "Profit" erwirtschaften, weiß der Kanzler des Kapitalstandorts Deutschland zu berichten. Von Unternehmen ist zu hören, denen "Kostensenkung" über alles geht, koste es die "Gesundheit des Verbrauchers", was es wolle. Und die Politik steht im Verdacht, das Geschäftsinteresse einer ganzen Abteilung "industrieller Massenproduktion" systematisch zu fördern.

Die ungeheuerlichen Vorwürfe werden von den autorisierten Wirtschaftsberatern des deutschen Volkes erhoben, und zwar ohne Rücksicht auf etwaige Konfusionen in der nationalen Klippschule, wo das Einmaleins der globalisierten Marktwirtschaft normalerweise anders lautet: Da können Mega-Merger gar nicht groß genug sein, um international zu bestehen; da müssen Lohn-Kostensenkungsmaßnahmen ein Dauerprogramm sein, das die Politik mit allen Mitteln zu fördern hat; und die Produkte bereiten uns nur dann echte Freude, wenn der Profit, den ihr Verkauf realisiert, mindestens die "Profitgier" des Kreditkapitals zufrieden stellt, die an der Börse den Erfolgsmaßstab für alles reale Produzieren vorgibt. Zu dieser wirtschaftlichen Vernunft gibt es keine Alternative, schon gar nicht für eine Industrienation wie die unsrige.

Das gilt nach wie vor und überall, mit einer Ausnahme. Der Industriezweig, der ins Gerede gekommen ist, weil er sich so kostenbewusst und gewinnsüchtig betätigt wie das Kapital eh und je, ist nämlich eine Agrarindustrie, deren Besonderheit bis neulich kollektiv verdrängt wurde, jetzt aber wieder mächtig ins Bewusstsein dringt. Angesichts der Kollateralschäden, die die Konsumtion der Produkte dieser Industrie anrichtet, erinnert sich die Nation an ihre Kenntnisse der politischen Ökonomie, die sie sich in jahrzehntelanger Erfahrung mit "Lebensmittelskandalen" angeeignet hat.

Der Skandal ist diesmal besonders brisant, weil er in Gestalt einer hirnzersetzenden Seuche daherkommt, was selbst dem Autokanzler zu denken gibt. "Weg von den Agrarfabriken!", lautet seine Erkenntnis, die Ursache und Therapie der Krankheit beim Namen nennt. Die ganze Nation hat den Verdacht, dass es von Übel ist, wenn die kapitalistische Grundrechnungsart in der Landwirtschaft genauso uneingeschränkt und kompromisslos auf Rentabilität durch Kostensenkung besteht wie in allen anderen Produktionssphären. Denn während dort die unschlagbare Effizienz des Kapitalismus unweigerlich zur Qualitätssteigerung der Produkte führt – und allenfalls die Fabrikarbeiter ein bisschen ruiniert –, mündet das profitable Züchten und Mästen von lebenden Fleischwaren in ein volksgesundheitliches Desaster. So kann es also "nicht mehr weitergehen".

Die Anwälte der gesunden Volksernährung können dafür ein starkes Argument ins Feld führen, das umso überzeugender ist, je länger die Affäre sich hinzieht: Die Lebensmittelpanscher werden ihre Waren nicht mehr los. Auch nach drei Monaten BSE-Erfahrung steht der Verbraucher in Deutschland derart "unter Schock", dass er sich überhaupt nicht mehr beruhigen will. "Nackte Zahlen" belegen, dass die "Ängste der Konsumenten" im "besonders sicherheitsbewussten Deutschland" die Märkte "viel stärker einbrechen lassen als anderswo". Das hätte man sich nämlich durchaus vorstellen und wünschen können, dass der Konsument Marke deutsch sich auch mal wieder abregt und die Sache – Legende hin, Legende her – genauso gelassen sieht wie sein Artgenosse in England oder der Schweiz. Da diesbezüglich aber eine komplette Fehlanzeige zu vermelden ist und der Verbraucher sich so renitent als Käufer verweigert, kommen Nationalisten aller Couleur zu dem Schluss, dass nur ein "Kurswechsel in der Agrarpolitik" Abhilfe schaffen, sprich: das "Vertrauen in die Märkte" wiederherstellen kann.

So basteln Politik, Verbände und Öffentlichkeit am großen Konzept, das unter dem Titel "Umbau der Landwirtschaft" segelt und keine Planwirtschaft werden soll. Die neuen Freunde der new ecology sind sich vielmehr darin einig, dass der "Verbraucherschutz" ab sofort "absolute Priorität" hat. Immerhin lassen sie damit durchblicken, dass das Geschäftsinteresse des panschenden Gewerbes, vor dem die konsumierende Menschheit auch in Zukunft "geschützt" werden muss, die Grundlage aller Umbaupläne bleibt. Umgekehrt ist deswegen auch klar, dass der schönste Verbraucherschutz nichts taugt, wenn er zum Hindernis fürs Geschäft ausartet; rechnen muss sich die Produktion von Esswaren schon. Man sieht: Vom kapitalistischen Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten lassen die Beteiligten des Skandals sich nicht entmutigen. Sie setzen ihn einfach fort und vertrauen im übrigen auf die Phantasie von Marketingprofis, die mit ihrer Produktperformance den verunsicherten Verbraucher davon überzeugen, dass die Figuren, die auf sein Geld scharf sind, in Wahrheit seine besten Freunde sind: "Sicherheit geht vor Profit", versprochen!

Mit der Zurückstufung des Profits auf Platz zwei ist die Sache allerdings noch nicht erledigt. Die neue Nr.1 ist nicht zum Nulltarif zu haben. Fleisch kostet Geld, Verträglichkeit einen Euro extra. Die kritische Absicht dieser Auskunft bezieht sich nicht auf den Profit, will nicht bedeuten, dass die Unverträglichkeit der Nahrungsmittel eben doch keinen anderen Grund hat als den geltenden kapitalistischen Produktionszweck desselben Namens. Der inkriminierte "Profit" ist nämlich nur ein Synonym für Billigproduktion und will als Beitrag zur Klärung der Schuldfrage verstanden sein. Nur noch 15% ihres Haushaltsgeldes müssen die Deutschen für ihre Ernährung ausgeben.

Das kann ja nicht gutgehen! Wer im Supermarkt, statt auf die Qualität, immer nur auf die Preise schaut, der darf sich nicht wundern, wenn der Wahnsinn um sich greift. Und so müssen die Menschen in diesem Land noch die andere Illusion begraben: dass ihre schöne Marktwirtschaft dazu da wäre, sie mit anständigen Nahrungsmitteln zu versorgen, die sie sich auch noch leisten können. Stattdessen haben sie endlich zu kapieren, dass man "zu schlechten Preisen nicht allerbeste Lebensmittel bekommen kann" (Andrea Fischer), sondern den unverträglichen Billigfraß kriegt, bei dem mit schlechten Preisen nur allerbeste Geschäfte zu machen sind.

*

Auf der Grundlage dieser Botschaft versorgen die Bedenkenträger staatlicher BSE-Politik die Nation zentnerweise mit Enthüllungsstorys, und zeichnen dabei ein ebenso drastisches wie realistisches Bild dessen, wie es in der Sphäre des kapitalistischen Landbaus zugeht. Eine rufschädigende Absicht in Richtung System kann ausgeschlossen werden; und ebenso die Befürchtung oder – je nach Standpunkt – die Hoffnung, dass die Wirkung auch ohne die Absicht eintritt. Denn der Kunstgriff dieser Verbraucherinformation besteht ja gerade darin, alles, was an Machenschaften des produzierenden und verarbeitenden Lebensmittelgewerbes aufgedeckt wird, in besagter Botschaft zu ersäufen.

Immerhin lässt sich den Berichten, die nichts verschweigen, vertuschen oder verharmlosen, entnehmen, dass derartige Machenschaften die Normalität und Regel dieses Geschäfts sind, welches ohne staatliche Gewalt gar nicht funktioniert; sie schildern die Normalität der Ernährungslage ganzer Nationen, deren Volkskörper ohne volksgesundheitlichen Begleitschutz glatt verrotten würden; kurz: sie bebildern die systemnotwendige Symbiose von Staatsgewalt und Geschäft, aus der sich die Nutzen- und Schadensbilanzen ergeben, die sich je nach Interesse und Funktion der Beteiligten fein säuberlich sortieren. Dass sie am Ende dann doch alle das Gefühl haben, "gemeinsam in einem Boot" zu sitzen, kommt nicht von ungefähr und wirft ein Licht auf die nationale Konkurrenzgemeinschaft und ihren obersten Rechtshüter.

Der eröffnet das große Fressen mit einer Generallizenz an seine Geschäftswelt. Als Gewaltmonopolist, der die Privatmacht des Geldes ins Recht setzt, sorgt der Staat dafür, dass alles Produzieren und Konsumieren in der Gesellschaft unter der ökonomischen Kommandogewalt des Kapitals steht. Mit dem Schutz der Freiheit des Eigentums, an dessen heiligem Recht allem Rinderwahn zum Trotz kein Schwein in dieser Republik irgendetwas auszusetzen hat, überantwortet er die Versorgung der Menschheit mit Nahrungsmitteln kapitalistischen Eigentümern und ihren Geschäftsinteressen, von deren Bedienung jedes andere Interesse abhängt. Was die Menschheit zu essen kriegt, wie viel sie sich leisten kann und was nicht, das alles hängt von den Gewinnkalkulationen derer ab, für die Fleisch, Fisch oder Gemüse eine Ware ist, deren Produktion und Verkauf sich für sie lohnen muss. So setzt der Staat die Herrschaft des Tauschwerts über den Gebrauchswert durch und macht das Kapital im doppelten Wortsinn zum Lebensmittel der Gesellschaft.

Damit dieses nicht nur das eigene Volk effizient ernähren, sondern auch einen Beitrag zur weltweiten Hungerbekämpfung leisten kann, kümmern sich die Staaten Europas darum, dass das Gewerbe, das unser täglich Brot garantiert, eine Exportbranche wird, die weltmarkttaugliche Ware produziert. Denn das ist der Maßstab des Lohnens, den sie ihrem Nährstand beibringen. Der darf und soll Geld verdienen, aber so, dass sein Geldverdienen zum nationalen Wachstum und zur Schlagkraft des gesamteuropäischen Standorts beiträgt. Dafür haben die politischen Erfinder und Bewährungshelfer des gemeinsamen Agrarmarktes das einzig Richtige getan und gemeinschaftlich die Industrialisierung der Landwirtschaft in Europa vorangetrieben, wohl wissend, dass deren imperialistische Zwecksetzung gewisse Aufräumarbeiten nötig macht und einen ziemlichen Geldaufwand erfordert.

Zielstrebig setzen sie die Planungs- und Lenkungsinstrumente freiheitlicher Staaten ein, schützen ihren Markt durch Zoll- und Handelsschranken gegen die außereuropäische Konkurrenz, kreieren in Europa ein gigantisches Subventionssystem, das mit seinen Prämien, Ausgleichszahlungen, Ausfuhrstützungen etc. noch den entlegensten Bergbauernhof zur kapitalistisch-artgerechten Tierhaltung stimuliert; in ihren turnusmäßigen Agrarrunden schachern sie um die aus nationaler Sicht zweckmäßige Kombination von Fördern und Zerschlagen und organisieren auf diese Weise eine Auslese unter den Produzenten, bei der die Rentabilität in der Produktion von Rindern, Hühnern, Schweinen den Ausschlag gibt – und nebenbei ganz zwangsläufig die besagten Geschöpfe als solche sowie ihren Gebrauchswert als menschliche Nahrungsmittel ziemlich in Mitleidenschaft zieht. So haben sie aus dem nationalen Nährstand international agierende Nahrungsmittelunternehmer gemacht, die sich gegen die Konkurrenz – daheim, in Europa und weltweit – behaupten können; und so bewirtschaften sie – ohne den Gesichtspunkt nationaler Konkurrenz zu vernachlässigen – eineeuropäische Agrarindustrie, die als Instrument einer "aggressiven Exportpolitik" taugt.

Dieses Programm ist natürlich von Anfang an von der Einsicht geleitet, dass kapitalistisches Produzieren in dieser Sphäre nur funktioniert, wenn das schwächste Glied in der Kette, die bäuerlichen Produzenten, sich von den Fährnissen und dem Zeitbedarf der Zellteilung emanzipiert. Damit die Produktion von Rindern & Kapaunen nicht weniger effizient abgewickelt wird als die Fertigung von Autos & Kühlschränken – Verbilligung der Produktionskosten bei gleichzeitiger Steigerung des Outputs –, fördern die Staaten auch die Wissenschaft mit gutem Geld, so dass die Erkenntnisse der Biochemie nutzbringend zur Beschleunigung des Kapitalumschlags einer notorisch zur Langsamkeit tendierenden Naturware eingesetzt werden.

Der Erfolg, den eine auf höchstem technischen Niveau arbeitende Düngemittel- und Tierfutterindustrie garantiert, kann sich sehen lassen: Zahlreiche "Energiestoffe" – Kraftfutter, Milchaustauscher und andere antibiotisch angereicherte Wachstumsbeschleuniger – reduzieren die Reifezeit von Hühnern, Schweinen und Rindern auf kapitalgemäße Rekordwerte; erzeugen ein Fleisch- und Milchvolumen, von dem Mutter Natur nicht zu träumen wagt; machen die Aufzucht von Weidevieh unabhängig von vorhandenen Weideflächen; halten die damit einhergehende Seuchengefahr in den Ställen der "industriellen Massentierhaltung" einigermaßen in Grenzen; mit dem Effekt, dass der Fleischverzehr den Verbraucher auch medikamentös ausreichend versorgt und die Bakterien, die ihn hin und wieder attackieren, gegen die gängigen Antibiotika resistent macht; was wiederum den Forschungsdrang der Pharmaindustrie enorm anstachelt usw.

Welch großartige Leistungen die Symbiose von Staat und Kapital ermöglicht, zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Tatsache, dass es mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik gelungen ist, den Unterschied zwischen Müllentsorgung und Nahrungsproduktion definitiv zu beseitigen. Denn nach dem Kriterium der Rentabilität ist jeder nicht verwertbare Abfall ein himmelschreiender Widerspruch zum Zweck der Veranstaltung, also eine einzige Kostensenkungsoption und ein dauernder Stachel, sie voll auszuschöpfen.

Dass noch der letzte Abfall an Hufen, Nervensträngen, Augen, Hirnhäuten oder zentrifugal gewonnenem Separatorenfleisch – nicht selten noch veredelt mit "Kot, Urin, Verpackungsmaterial, schutzbehandelten Holzspänen, Klärschlamm" und anderen, nicht verbotenen, Geschmacksverstärkern – Eingang in die "Nahrungskette" von Mensch und Tier findet; dass Knochen, Blutbahnen, abgeschabte Tierfette, mit Medikamenten und krebserzeugenden Substanzen vollgepumpte Laborratten und Versuchsmäuse zu einer homogenen Masse zusammengekocht werden, die als Tierfutter ebenso taugt wie als Schmierstoff für Industriemaschinen, das gibt eine Anschauung davon, zu welch universeller Verwendung der Gebrauchswert fähig ist, wenn er unter der Obhut des Tauschwerts und seiner Agenten steht. Die veranstalten ein dauerndes Experiment mit dem Gebrauchswert der Nahrungsmittel, die solange "verträglich" sind, wie sie einen Markt finden; unterwerfen den Verbraucher also einem permanenten Verträglichkeitstest und führen vor, wie es geht, dass eine landwirtschaftliche Produktion unter der Prämisse kapitalistischer Kosteneffizienz ein ganzes Volk von Konsumenten mit seinen Esswaren systematisch vergiftet.

Das Volk ist freilich keine Ansammlung von "Konsumenten"; seine soziale Rolle hat es darin, die Arbeitermassen zu stellen, auf die das Kapital Anspruch hat, und um deren Verfügbarkeit und Nützlichkeit sich der Staat permanent kümmert. Dass die physische Reproduktion der – aktiven wie inaktiven – Arbeiter (inkl. Familien) in der "kleinen Zirkulation" des kapitalistischen Warenkreislaufs beheimatet ist, setzt natürlich eine "Billigproduktion" voraus, schließlich müssen die von einem Lohn oder Lohnersatz leben. Dass sie trotz ihrer armseligen Revenuequelle geglaubt haben, sie könnten sich "alles" leisten, wenn sie nur sorgfältig "auf die Preise achten"; dass sie sich hemmungslos an den Sonderangeboten der Marktwirtschaft bedient haben – und dafür die Quittung erhalten haben, ist ein gelungener Witz unserer postindustriellen Spaßgesellschaft.

Denn die Billigproduktion der "industriellen Landwirtschaft", deren GAU wir gerade miterleben dürfen, hat ihren Grund ja wahrhaftig nicht in der "Anspruchshaltung" der armen Schlucker, die es so massenhaft gibt, sondern im Interesse der Privateigentümer, auch aus deren Armut ein Geschäft zu machen. Die Agenten des Profits konkurrieren dabei um den nationalen Arbeitslohn als Kaufkraft; um einen Arbeitslohn also, der als Lohnkost des Kapitals für eine rentable Produktion immer zu hoch ist, dessen Senkung der Staat deshalb zum Kernpunkt seiner Standortpolitik gemacht hat. Als Kaufkraft ist der Lohn für die Realisierung des Profits zuständig; und da macht sich die betrübliche Erkenntnis breit, dass er nicht reicht, um all die schönen Waren zu versilbern, die der Markt im Angebot hat. Er reicht einfach nicht, um das Grundeigentum zufriedenzustellen, die Fernseher- und Kühlschrankindustrie zu fördern und auch noch das Lebensmittelkapital am Leben zu erhalten. Wohnen und Essen kann sich der Arbeitsmann nicht leisten, ganz zu schweigen von den Haushaltslöchern des Staates, die er auch noch stopfen helfen darf.

Wenn das Essen und Trinken aber ein Geschäft sein soll, und das soll es ja nach staatlichem Willen, dann muss die Ernährung der Nation eben so organisiert und bewirtschaftet werden, dass der Haushaltsposten für mangiare die Funktion einer "Inflationsbremse" kriegt: das sind die berühmten 15 Prozent. Damit es dazu kommen konnte, mussten allerdings die Produktivkräfte nach der Rechnungsart des Kapitals entfesselt werden – eine Änderung der Produktionsverhältnisse war ja nicht vorgesehen –, so dass all die schönen Wirkungen herauskommen, die der Menschheit zu schaffen machen und keine Nebenwirkungen sind. Das macht sich unter anderem darin geltend, dass die "kriminelle Energie", die durch das Programm so vielfach beflügelt wird, nur schwer und manchmal gar nicht von einer ganz legalen, staatlich sogar erwünschten Geschäftspraxis zu unterscheiden ist.

Kein Wunder ist deshalb auch die Verbitterung ehrenwerter Geschäftsleute, die nicht verstehen, dass die gewinnbringende Produktion von Tiermehl geächtet wird, bloß weil ein staatliches Verbot eine rechtswidrige Handlung aus ihr macht. Und in England hat sich der Rechtshüter selbst zehn Jahre lang geweigert, in der Praxis, eine Scrapie-befallene nationale Schafsherde zum Rohstoff der nationalen Rinderproduktion zu machen, etwas anderes zu sehen als die sinnvolle Methode, die Produktionskosten durch vorbildliches Recycling von Abfall zu senken – und mit seiner Bedenkenlosigkeit alle anderen europäischen Rechtshüter sosehr beeindruckt, dass sie sich ein Beispiel daran genommen haben.

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Dass der Staat "aufpassen" muss, weiß er nur allzu gut. Er macht sich nichts vor, zu welcher Sorte Freiheit er seine Wirtschaftssubjekte ermächtigt, die das Risiko der Konkurrenz für erstrebenswerter halten als die Sicherheit eines gemütlichen Lohnarbeiterdaseins. Er hat keinerlei Illusionen über die jeden Anstand zersetzende Form des Reichtums und die damit einhergehende skrupellose Praxis der Bereicherung, die unter seinem hoheitlichen Schutz stehen. Dass seine Unternehmer, wenn’s drauf ankommt, Hühnerscheiße zu Erdnussbutter verarbeiten, weil der Preisdruck der Märkte das nahelegt, davon geht er aus. Er selbst ist es ja schließlich, der seine Gesellschaft auf den Konkurrenzmaterialismus des Geldes verpflichtet und den Nutzen und Erfolg der Nation darauf gründet.

Die im Geld materialisierte Gleichgültigkeit gegen die Nützlichkeit der Gebrauchswerte hat vom Standpunkt kapitalistischer Produzenten nur einen einzigen relativierenden Aspekt: den Misserfolg des Verkaufs. Wenn die Futtermittel, die sie auf den Markt werfen, die Kundschaft nicht bloß ernähren, sondern auch ein bisschen vergiften, dann leidet, wenn sich das herumspricht, außer dem Kunden das Geschäft. Dieses Risiko hält die Lebensmittelversorger von nichts ab. Sie vertrauen auf ihre Erfahrung, dass der Mensch eine Menge aushält, bevor er auseinander fällt; sie bauen auf die Sicherheit, dass ihre Kunden ihnen nicht entkommen, was sie daran erkennen, dass die allen Skandalen zum Trotz zu "Vergesslichkeit" neigen; und sie verlassen sich auf die Einsicht des Staates, dass ihr Nutzen auch der seine ist.

Der Staat sieht die Sache ähnlich, allerdings mit einer anderen Perspektive. Er teilt nicht den bornierten Konkurrenzegoismus einzelner Produzenten oder Händler. Als ideeller Gesamtkapitalist achtet er auf das Funktionieren des nationalen Konkurrenzgeschäfts, kümmert sich als Rechtsstaat um die Kontinuität des Profitmachens, die er mit einem umfangreichen Paragraphenwerk sicherstellt, welches die Dosierung der Vergiftung mit Grenzwertdefinitionen und anderen originellen Zulassungsbeschränkungen regelt; und betätigt sich insofern als Sozialstaat, der das "Recht" seiner Bürger "auf körperliche Unversehrtheit" schützt.

Der rechtsstaatlichen Restriktion des Geschäfts zum Nutzen des nationalen Geschäftemachens verdankt der Mensch also den hoheitlichen Schutz seiner Gesundheit, oder besser gesagt: darin besteht der Schutz. Die Restriktionen sollen sicherstellen, dass die Privateigentümer es bei der Vermehrung ihres Eigentums nicht 'zu weit' treiben. Wie weit sie es treiben können, und was die Sorge um die Volksgesundheit so alles einschließt – nicht nur an Risikomaterial, das derzeit die Runde macht, sondern auch an staatlicher Risikobereitschaft –, dafür liefert die BSE-Affäre glanzvolle Belege. Dass Scrapie den "Artensprung" vom Schaf aufs Rind geschafft hat; dass ein zweiter Artensprung vom Rind auf den Menschen möglich ist, womöglich sogar schon stattgefunden hat; dass der eine oder andere Creutzfeldt-Jakob Fall eine "neue Variante" darstellt und mit dem Wahnsinn der "Kuh 133" zusammenhängt; das konnten und wollten verantwortungsbewusste englische Wissenschaftler schon vor fünfzehn Jahren nicht mehr ausschließen.

Mit ihrer Sorge, dass die Fälle, mit denen sie es zu tun haben, nur die Spitze eines Eisbergs sein könnten, wenden sie sich an die Regierung. Sie geben zu Protokoll, dass sie nichts Gesichertes wissen, aber genügend Anhaltspunkte haben, die ihre Befürchtungen stützen; sie melden Forschungsbedarf an, verlangen die finanziellen und materiellen Mittel dafür, inklusive der kranken Kühe als Forschungsobjekte, und raten zu einem Stopp der Verfütterung von Kadavermehl an Rinder, bis gesicherte Erkenntnisse über Ursache und mögliche Übertragungswege der Krankheit vorliegen. Mit all diesen Anträgen beißen sie bei der Regierung auf Granit. Die stellt sich nicht einfach blind und taub zu den Warnungen ihrer wissenschaftlichen Experten – dass die forschen, sie beraten und nötigenfalls warnen, dafür werden sie schließlich bezahlt –; sie trifft vielmehr eine politische Abwägung. Die in Aussicht gestellte Schädigung ihrer Volksbasis – als mögliche Seuche mit tödlichem Ausgang nichts Geringes – setzt sie ins Verhältnis zum ökonomischen Schaden, mit dem sie sicher rechnen kann, wenn sie bloß "zugibt", dass eine Seuchengefahr für Rinder und Menschen besteht.

Und erst recht, wenn sie diese Gefahr mit allen Konsequenzen anerkennt. Dann nämlich greift, vom Einzelfall getrennt, das seuchenrechtliche Regelwerk des Rechtsstaates rücksichtslos gegen jedes bestimmte Rentabilitätskalkül, dann muss mit jedem "Einzelfall" die ganze Herde vernichtet werden. Angesichts dieser Aussichten kommt die Regierung nach Abwägung aller Unwägbarkeiten zu dem Schluss, dass von einem Eisberg vorerst nichts zu sehen ist; sie sieht nicht ein, dass sie auf Basis "ungesicherter Prognosen" eine ganze Abteilung der nationalen Landwirtschaft aufs Spiel setzen soll, nur weil ihre wissenschaftlichen Angsthasen ein "Risiko" für die Bevölkerung nicht ausschließen wollen.

Also gibt es dieses Risiko nicht. England hat kein BSE-Problem, es hat nur ein paar kranke Rinder, so dass sich das Problem durch Schlachtung erledigt. Sobald dieser Beschluss gefasst ist, steht auch fest, dass der Kampf nicht gegen eine Seuche geht; bekämpft werden muss vielmehr die üble Nachrede, die Nation hätte ein Seuchenproblem. Um jeden Zweifel an ihrer "Einschätzung" im Keim zu ersticken, treibt sie dem staatlich organisierten Expertentum erst einmal gründlich die Flausen in Sachen Verantwortung der Wissenschaft aus: "im Dienste des Volkes" heißt auch in der freiheitlichen Welt nicht, die Regierung mit volksgesundheitlichen Skrupeln zu nerven, und schon gar nicht, das Geschäft der Politik aus lauter nationaler Verantwortung mit subversiven Aufklärungsversuchen in der Öffentlichkeit zu stören. Mit dem Entzug staatlicher Gelder, der Schließung von Instituten und der Erledigung manch hoffnungsvoller Karriere zügelt die Regierung ihrer Majestät den Forschungsdrang der Wissenschaft.

Ebenso gründlich kümmert sie sich um das Objekt der Erforschung, erklärt alle BSE-verdächtigen Rinder zu staatlichem Eigentum und entsorgt sie in eigener Regie. Und zwar Jahre lang völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass die Zahl der getöteten Kühe sich auf dem Niveau von 2000 und mehr pro Monat bewegt. Sie verfügt Massenschlachtungen, entschädigt ihre Bauern mit fünfzig Prozent des Marktwerts, was den Export nach Europa sprunghaft ansteigen lässt, und setzt ungerührt ihre demokratische Öffentlichkeitsarbeit fort: Sie hält das Datenmaterial, das ihr vorliegt, unter Verschluss; kassiert die Berichte der regierungseigenen Kommissionen, wenn sie die Lage nicht so beschönigen, wie es zur Beruhigung des Verbrauchers nötig ist; setzt bewusst Lügen in die Welt etc. Der Landwirtschaftsminister persönlich lässt es sich nicht nehmen, seinen Landsleuten zu zeigen, zu welchen Charakterdeformationen es politische Charaktermasken der Demokratie bringen, und "lässt vor laufenden TV-Kameras seine 4-jährige Tochter demonstrativ hirnhaltige Hamburger verzehren", damit das englische Volk weiß, wie sicher british beef ist.

Der nationale Feldversuch stiftet immerhin eine gewisse Klarheit und zeigt, dass auch Staaten lernfähig sind. Nach einem Jahrzehnt kommt die britische Regierung nicht umhin, eine Zwischenbilanz ihrer Politik der "nationalen Legende" zu ziehen. Mehrere hunderttausend Rinder sind in den Verbrennungsöfen gelandet, und die nvCFJ-Toten nehmen zu. Ihre wissenschaftlichen Berater können beim besten Willen nichts mehr beschönigen; die "Übertragbarkeit" der Krankheit ist im wissenschaftlichen Experiment längst erwiesen, ebenso die "Veränderung", die der Erreger bei seinem Artensprung erfährt. Zwar wissen die Berater sonst nicht sehr viel mehr, aber der Zusammenhang zwischen BSE und der neuen CFJ-Variante erscheint inzwischen "wahrscheinlich". Aufgrund der Datenlage rechnen sie der Regierung vor, dass eine gute Million BSE-befallener Rinder an die heimische Bevölkerung verfüttert wurde, und raten ihr, sich im "worst case" auf 150.000 bis 200.000 Tote einzustellen. Das macht Eindruck auf die Risikoabschätzung und den politischen Verantwortungsträgern klar, dass der staatliche Handlungsbedarf neu zu definieren ist. Worin der besteht, entnehmen sie den ökonomischen Konsequenzen, mit denen sie einerseits konfrontiert werden – vor allem durch das europäische Ausland –, und die sie andererseits mit jeder noch so vorsichtig dosierten volksgesundheitlichen Risikoeingrenzung selber herbeiführen.

Die Sorge des Staates, sich ein unkalkulierbares Risiko, den Volkskörper betreffend, eingehandelt zu haben, führt dazu, dass er die Praxis der Verharmlosung und des Ignorierens der "verschwindend geringen Gefahr" ein Stück weit aufgibt und "eine Gefährdung der Bevölkerung nicht mehr ausschließt". Damit gesteht die englische Regierung allerdings auch ein, was sie zehn Jahre lang geleugnet hat, und sorgt mit dem Eingeständnis endgültig dafür, dass der Rindermarkt in England den Einbruch erlebt, den sie vermeiden wollte. So erfährt sie, dass ihre Rechnung nach beiden Seiten nicht aufgegangen ist: Die "Unbedenklichkeit" des Fleischverzehrs, die sie ihren Massen ideologisch und praktisch verordnet hat, wirft ein volksgesundheitliches Problem mit möglicherweise unkontrollierbaren Folgen auf; und die Bedenkenlosigkeit, mit der sie ihren Markt geschützt hat, endet in einem ökonomischen Desaster. Diese ungute Kombination lässt nicht nur England, sondern auch die anderen europäischen Nationen zu Anwälten der Gesundheit und des Verbraucherschutzes werden.

Ob und inwieweit sie dabei von der "Angst" beseelt sind, dass ihre Volksmassen systematisch und unwiederbringlich vergiftet werden, lässt sich mit letzter Sicherheit wohl nicht beurteilen; nach allem, was man an Problemdefinitionen und Lösungsmaßnahmen so mitbekommt, laufen die Berechnungen von England bis nach Spanien allerdings ziemlich eindeutig darauf hinaus, dass die "Marktbereinigung" das eigentliche Gesundheitsproblem Europas ist. England hat es vorgemacht, wie eine kapitalistische Nation auf eine Seuche reagiert, die das unmittelbare Produkt des landwirtschaftlichen Geschäfts ist; und weil England, politökonomisch gesehen, eben doch keine Insel ist, haben die Menschen in Europa das historische Glück, auch noch mitansehen zu können, wie imperialistische Nationen, die wild entschlossen sind, die Konkurrenzfähigkeit ihres gemeinschaftlichen Standorts kontinuierlich zu verbessern, gemeinsam die Gesundheit in Europa retten.

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Die "europäischen Partner" Englands treffen ebenfalls eine Risikoabwägung, und zwar für sich. Dass englische Rinder von einer BSE-Krankheit befallen sind, lässt sie jahrelang völlig kalt; sie halten die Tiermehlverfütterung für eine rundum sinnvolle Sache und ihre Massen daheim für mindestens genauso resistent wie die Inselbewohner im Nordatlantik, teilen also allesamt den gleichen volksgesundheitlichen Standpunkt und stehen sich im staatlichen Mut zum Risiko in nichts nach. Deswegen sehen sie auch keinen Anlass, die freie Zirkulation von Rinder-, Kälber- oder Wurstwaren quer durch Europa auszusetzen. Mit dem Ausmaß der englischen Betroffenheit wird ihnen dann allerdings die Brisanz dessen klar, dass sie es nicht mit irgendeinem Dioxin- oder Glykolzusatz, sondern mit einer "Übertragungskrankheit" zu tun haben, die aus einem "englischen Problem" eine europäische Betroffenheit macht. Als zivilisierte Nationen besinnen sie sich auf ihre Aufgabe, Schaden von ihren Völkern abzuwenden, dringen darauf, dass England sich zu seinem BSE-Problem bekennt, und melden so europäischen Handlungsbedarf an.

Der orientiert sich, wie in England, an den ökonomischen Konsequenzen, die zu gewärtigen sind – jetzt aber für alle anderen nationalen Märkte und insofern für das gesamteuropäische Agrargeschäft. Die guten Europäer führen vor, was es heißt, wenn sie sich als Staaten dazu durchringen, die Krankheit doch tatsächlich als Seuche anzuerkennen: dann machen sie aus der 'Seuchenbekämpfung' eine einzige imperialistische Konkurrenzveranstaltung, lokalisieren den Erreger nach nationalen Gesichtspunkten, machen also aus Gesundheitsfragen Standortfragen des höchsten Kalibers, und entdecken eine hervorragende Gelegenheit, ihre Konkurrenz auch mal wieder mit den Mitteln des Protektionismus auszutragen, dem sie für alle Zeiten abgeschworen haben.

Die Hüter des freien Warenverkehrs, die einen Agrarmarkt bewirtschaften, auf dem kein Tiermehlfabrikant, kein Schlachthof, Metzger oder Bauer nur für eine nationale oder gar lokale Kundschaft produziert; auf dem die Geschäftswelt tagtäglich von Schottland bis Sizilien Massen von lebenden und toten Fleischwaren hin und her verschiebt und den gesamteuropäischen Umwelt- und Tierschutz ob der vielen LKWs auf den Straßen und der tierquälerischen Transportmethoden in Aufregung versetzen, diese Figuren haben den bestechenden Einfall, dass die Prionenkrankheit, recht besehen, nur in Großbritannien beheimatet ist, während die anderen Märkte Europas "BSE-frei" sind.

Und damit das so bleibt, dringen die Staaten der Gemeinschaft darauf, dass Großbritannien sein Problem daheim bewältigt. Sie beschließen, um Verbraucher und nationale Märkte sowie den guten Ruf des europäischen Rindfleischs zu schützen, ein Embargo: weltweites Exportverbot für englische Rinder, Rindfleischprodukte und englisches Tiermehl; Verpflichtung Großbritanniens, alle Rinder, die älter als 30 Monate sind, zu schlachten und zu verbrennen, insgesamt 4 Millionen. So bewältigen sie die geschäftsschädigenden Wirkungen ihrer volksgesundheitlichen Schutzmaßnahmen, indem sie den Schaden national vereinseitigen und dafür sorgen, dass der englische Rindermarkt – für eine Weile zumindest – tatsächlich "tot" ist.

Den Vorwurf Englands, dass der gesamteuropäische Gesundheitsschutz für die anderen Staaten nur ein Vorwand sei, um sich nationale Konkurrenzvorteile zu verschaffen, also nicht den Verbraucher, sondern die heimische Geschäftswelt schützen soll, lassen deren Regierungen nicht zu. Das Embargo ist selbstverständlich zeitlich limitiert, es soll ja keine Absage an Europa sein oder den Ausschluss Englands einleiten.Wie lange es in Kraft bleibt, und unter welchen Konditionen es gelockert und schließlich aufgehoben wird, das allerdings ist wiederum Gegenstand innereuropäischer Konkurrenz, bei der sich die nationalen Subjekte dieser Konkurrenz ungeheuer kooperativ zeigen: England hat es selbst in der Hand, wie schnell die Sanktionen aufgehoben werden; es braucht nur die Sicherheitsauflagen der EU ernsthaft und nachprüfbar umzusetzen. Die Überprüfung obliegt – wg. Objektivität – EU-Gremien, die regelmäßig nachschauen, ob England seine Hausaufgaben erledigt; das bereichert die europäische Kultur der Einmischung, schafft viel Beratungsbedarf, um die Zerwürfnisse in der Gemeinschaft in konstruktive Politik umzusetzen, und bringt die Eindämmung der Seuche entschieden voran.

Daneben verständigen sich die EU-Staaten darauf, wie das Geschäft auch neben und unter dem Embargo weitergehen soll. Sie definieren das "Risikomaterial", das sie ihren Völkern ersparen wollen, ohne ihrer Geschäftswelt zu nahe zu treten; und da sie den Unterschied zwischen Mensch und Tier bei allem Respekt vor "dem Leben" nicht verwischen wollen, bestimmen sie gleich mit, welchen Viechern der menschlichen Nahrungskette sie welches Risikomaterial zugestehen. Die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer erscheint ihnen problematisch und wird verboten, an andere Gattungen & Familien bleibt sie erlaubt. Der Erfahrungstatsache, dass die Prionen inzwischen Hauskatzen, amerikanische Elche, afrikanische Löwen in englischen Zoos und Schweine im Laborversuch befallen haben, tragen sie dadurch Rechnung, dass sie die Produktion des Tiermehls mit Auflagen zu einem "sicheren" Herstellungsverfahren versehen, das den Erreger, von dessen Funktionsweise die entscheidungsbefugten Knalltüten nicht die leiseste Ahnung haben, "abtötet": 133 Grad Celsius bei drei Bar Druck und zwanzig Minuten lang – damit wahren sie die Einheit von Tierschutz und menschlicher Gesundheitsvorsorge.

Den Clou im Kampf gegen die Seuche landen die europäischen Nationen mit ihrer Erkenntnis, dass ein Qualitätssiegel "garantierter Herkunft" immer noch der beste Verbraucherschutz ist. Wo die Prionen herkommen, ist klar, und woher nicht, auch. Also lassen die nationalen Rechtshüter als Reaktion auf die englische Krankheit überall in Europa "BSE-freie" Zonen aus dem Boden sprießen und stellen sie unter ihren besonderen nationalen Schutz. Die Sicherheit, die sie damit stiften, ist enorm: Der Verbraucher hat eine echte Orientierungshilfe bei der Frage: was kann ich noch essen, wem kann ich vertrauen? Und die Produzenten haben die beruhigende Rechtssicherheit, dass ihnen keiner über die Schulter und in die Ställe schaut. Und das ist ja auch richtig, denn: "Wo nichts ist, braucht nicht getestet zu werden", und wo kein Risiko herrscht, macht es "keinen Sinn, von Risikomaterial zu reden", dessen Entfernung nur "die Bauern wirtschaftlich belastet" (Stoiber).

Die Tierfutterhersteller, die eine so wichtige und zentrale Rolle in der landwirtschaftlichen Kreislaufwirtschaft spielen, brauchen einen besonderen Vertrauensschutz, den sie mit dem Schutz ihres "geistigen Eigentums" und "Geschäftsgeheimnisses" auch bekommen: Befreiung von jeder Deklarationspflicht ihrer "Rezepturen", die nur die Etikettenindustrie überfordern würde, weil die Rezepturen sich "sowieso fortlaufend ändern". Manche (Landes-)Regierung zieht daraus den einzig vernünftigen Schluss und schafft gleich die entsprechenden Kontrollbehörden ab (Bayern), die unnötig Steuergelder verschlingen.

Wie man sieht, lernen die Staaten Europas ihre Lektion aus dem britischen Desaster und kopieren die "englische Methode" der Seuchenbekämpfung – in der praktischen und ideologischen Bekämpfung des Verdachts, sie hätten womöglich auch ein BSE-Problem: Von Prionenforschung halten sie genauso wenig wie die englische Regierung, halten folglich auch ihre Wissenschaft an der kurzen finanziellen Leine; das Verdikt gegen England untermauern sie mit ihren Boykottmaßnahmen, deren Glaubwürdigkeit sie mit der Verweigerung von Tests daheim belegen. So stiften sie "Vertrauen" beim Verbraucher in die nationalspezifischen Wurst- und Fleischwaren, ein Vertrauen, das von der üblen Nachrede auf die auswärtigen Produkte und Produktionsmethoden lebt. Sie mobilisieren die "Gutgläubigkeit" von Nationalisten, die in ihrer praktischen Abhängigkeit sowieso keine anderen "Auskünfte" erhalten als die ihres Staates und sich daher bereitwillig die Illusion verpassen lassen, in der Bedienung der heimischen Geschäftswelt das Beste für ihre Gesundheit und Sicherheit zu tun.

Mit ihrer nationalen Seuchenbekämpfung richten die europäischen Nationen mit vollem Risikobewusstsein lauter hoheitlich geschützte Grauzonen ein. Sie schützen ihre Völker, indem sie sich wechselseitig – manchmal mit Vorbehalten – das europäische Zertifikat einer BSE-freien Zone ausstellen und so ihre nationalen Märkte schützen, so dass der landwirtschaftliche Import und Export in Europa munter weitergeht. Und zwar einerseits mit den Waren, deren "Unbedenklichkeit" keinen medizinischen, sondern einen politischen Stempel trägt. Andererseits aber auch mit all den anderen Waren, die die Politik mit Sanktionen belegt. Die Verantwortungsträger machen sich überhaupt nichts vor, was "die bekannten Handelswege" in Europa betrifft, geben zu, dass sie die gar nicht kontrollieren können – oft genug aber auch gar nicht wollen.

Denn zum Kontrollieren haben die Staaten ein sehr pragmatisches Verhältnis. In der griffigen Formel, dass sie unmöglich hinter jeden Metzger, Bauer oder Tiermehlfabrikanten einen Kontrolleur stellen können, bekräftigen sie ein ums andere Mal, für wie kontraproduktiv sie das Nachschauen im Namen der Volksgesundheit halten, und signalisieren ihren Schlachthöfen und Futtermittelfabriken jenes Vertrauen, ohne das kein Marktteilnehmer auf den Märkten bestehen kann. "Verschleppung" heißt dann das Verfahren, bei dem Futtermittelhersteller die "tolerierten" 1 bis 2 Prozent (und manchmal ein paar Prozent mehr) Rindermehl "beimengen", weil die Reinigung der Silos bei der Umstellung von Schweine- auf Rinderfutter einfach zu kostenaufwendig ist. Und die Bauern, wenn sie auch sonst nichts wissen, wissen anhand der Testvorschriften zumindest, "wann" sie ihre Kühe in den Schlachthof bringen müssen. Mit ihrer kongenialen Nachahmung der englischen Seuchenbekämpfung haben die europäischen Nationen eine Sicherheit jedenfalls gestiftet: die Verallgemeinerung der Seuche in ganz Europa ist ihnen gelungen.

*

Anders als England, das nicht die Existenz seiner BSE-Kühe geleugnet hat – das wäre ja auch schwerlich möglich gewesen –, sondern den für die Menschen gefährlichen Seuchencharakter der Krankheit, gründen die restlichen EU-Staaten ihre nationalen Legenden auf die Behauptung, bei ihnen gebe es die torkelnden Rinder nicht. Ihre für die Massen daheim gedachte Beschwichtigungsparole, mit der sie in Europa Standortpolitik betreiben, geht von der Anerkennung von BSE als Übertragungskrankheit aus, auf die sie selber in ihrer Frontstellung gegen England gedrungen haben, und die seither in Europa gilt. Deshalb steht und fällt ihre nationale Lüge mit der Verschleierungspraxis daheim.

Aus dem gleichen Grund ist allerdings auch ihr Verfallsdatum vorprogrammiert. Angesichts eines florierenden EU-Agrarmarktes und der gemeinschaftlichen Praxis einer Grauzonenbewirtschaftung ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Staaten durch Erfahrung klüger werden und die Kühe, die sich mit auffälligem Verhalten zu Wort melden, als Indiz dafür nehmen, dass ihre geniale Praxis der volksgesundheitlichen Standortpflege den Prionen offenbar doch den Weg zu den heimischen Märkten gewiesen hat, also ein ernst zu nehmendes Problem aufwirft. Zynisch genug, es erst einmal drauf ankommen zu lassen und ihren Völkern den nationalen Großtest am lebenden Objekt als höchste Form der Verbrauchervorsorge zu verkaufen, sind sie andererseits nicht so naiv, ihre eigene Legende zu glauben.

Dass die sachlich gesehen nichts wert ist, wissen sie selber am besten, kennen also auch den Weg, wie man sie aus dem Verkehr zieht: "Wer testet, der findet"! Sukzessive kommen die Standortbetreuer zu dem Schluss, dass sie ihren Verbrauchern diese Zumutung schuldig sind. Ihre Sorgen unterscheiden sich nämlich ein wenig von dem Problem, das Otto Normalverbraucher hat oder kriegt, wenn er seine liebgewonnenen Risikomaterialien verdrückt. Als Verantwortungsträger denken sie ans Ganze, können es nicht hinnehmen, dass sich in ihrem Hoheitsgebiet eine Krankheit ausbreitet, die eine so schädliche Wirkung auf den Wirtschaftssektor hat, der diese Krankheit hervorbringt. Folglich ist Testen angebracht, um die ökonomischen Folgen in den Griff zu bekommen; sprich: mit einigen geschäftsschädigenden Revisionen ihrer bisherigen Praxis neues Vertrauen zu schaffen – in die Märkte und in die Politik.

Damit das funktioniert, bestehen die europäischen Imperialisten – in Erinnerung an die Startphase der BSE-Affäre – allerdings auf einer entscheidenden Änderung in der Praxis der Krisenbewältigung: Dass sie sich gegeneinander so aufführen wie anno 96 das gemeinschaftliche europäische Ausland gegen England, soll nicht wieder vorkommen; da jetzt alle betroffen sind, verstößt eine Nationalisierung des Schadens gegen die guten europäischen Sitten. So leiten sie aus der allgemeinen Betroffenheit den Grundsatz ab, dass aus ihrer jeweiligen nationalen Betroffenheit kein auswärtiger Souverän einen Vorteil schlägt; bzw. umgekehrt: dass alle nationalen Maßnahmen der Krisenbereinigung per Brüsseler Beschlüsse europaweit gelten sollen, die Bewältigung der politischen Unkosten eingeschlossen.

Von daher ist es kein Wunder, dass Deutschland in den Blickpunkt europäischer Unzufriedenheit gerät. Die 'Mitte Europas' hält allen "Erfahrungen" ihrer Nachbarn zum Trotz stur an ihrer BSE-freien Zone fest; ignoriert die Einschätzung des wissenschaftlichen Lenkungsausschusses der EU, der die Tabellenplätze in der BSE-Championsleague vergibt und das Land in die "dritte Risikokategorie" (stark gefährdet) einstuft; verweigert sich notorisch jedem Testen und blockiert mit dem Hinweis auf "deutsche Sicherheitsstandards", welche die "höchsten" in Europa sind, sämtliche Initiativen der EU in Sachen Neudefinition von Risikomaterial u.ä. Dem stellt sich die rotgrüne Regierung. Sie hat schon lange vor dem schwarzen November die Gewissheit, dass die Politik der Verschleierung über kurz oder lang auffliegt, verordnet sich eine neue Ehrlichkeit und schwenkt auf die europäische Linie um: Alle sollen testen. Das Ergebnis ist bekannt.

Die erste original deutsche BSE-Kuh erzeugt in der Nation einen Schock. Nicht bei den Regierenden, die sich allenfalls ein bisschen "betroffen" geben; auch nicht bei der Öffentlichkeit, die vom Tag der Entdeckung an "schon immer gewusst" hat, dass die deutsche Losung – "wir sind BSE-frei" – ein "deutscher Wahn" war; echt "geschockt" ist wieder einmal der angeschmierte Verbraucher. Der entnimmt den Auskünften, die ihm auf allen Kanälen erteilt werden, nicht, wie er in den wirklichen Berechnungen seiner Obrigkeit vorkommt, ist also durchaus vernünftig; leider entnimmt er ihnen aber auch nicht die gute Absicht der Regierung, mehr Sicherheit durch Aufklärung zu stiften. Er macht stattdessen das Verkehrteste, was er in dieser schwierigen Lage machen kann, und reagiert mit "Panik" an den Ladentheken.

Zu seiner Ehrenrettung sei angemerkt, dass er der Regierung nur das entzieht, was die so hemmungslos von ihm fordert: sein nationalistisches Vertrauen darauf, dass die eigene Obrigkeit schon für die gesunde Qualität der hierzulande erzeugten Nahrungsmittel bürgt. Die Penetranz, mit der deutsche Regierungen von Kohl bis Schröder ihren Massen eingeimpft haben, dass der europäische Agrarmarkt sich dank ihrer überragenden Kompetenz in nationale Erregerzonen parzellieren lässt, schlägt jetzt mit voller Wucht zurück. Weil die nationale Herkunftsdeklaration die Garantieerklärung für den Verbraucher war, zerstört das Eingeständnis, dass auch die deutsche Herkunft malade ist, mit einem Schlag die Glaubwürdigkeit der Regierung und damit das Vertrauen in den "deutschen" Markt. Die Regierung – und mit ihr der heimische Rindermarkt – erhält die Quittung dafür, dass sie ihre Konsumenten als Nationalisten agitiert und deren "Verbrauchervertrauen" ausdrücklich als Misstrauen gegen auswärtige Rinderwaren abgerufen hat.

Deswegen nimmt der Verbraucher, der historischen Ironie keineswegs abhold, in dieser Affäre seiner Obrigkeit (fast) alles übel, was er ihr in sonstigen Skandalaffären verzeiht. Er entdeckt die Kunst der dialektischen Schlussfolgerung: bemerkt aus purer Borniertheit, dass staatliche Aufklärung Gefahren nicht beseitigt, sondern belegt – siehe die bundesweit verordneten Schnelltests, die einen "Familienbetrieb" nach dem anderen zum Offenbarungseid zwingen und ihm zeigen, in welch fortgeschrittenem Stadium sich sein Verbraucherrisiko befindet; er registriert, dass staatliches Kontrollieren nichts verhindert, sondern lauter amtlich geduldete und ministeriell gedeckte "Schlampereien" auffliegen lässt – und gleich wieder neue "kriminelle Energien" der Marktteilnehmer freisetzt; er nimmt zur Kenntnis, dass die staatlichen Schutzvorschriften nur neue Risikomaterialien definieren und die Liste der bedenklichen Speisen laufend ergänzen.

Der Verbraucher tauscht also sein abgrundtiefes nationalistisches Vertrauen von gestern gegen ein nicht minder heftiges nationalistisches Misstrauen ein – diesmal allerdings gegen die eigene Regierung, der er "nichts mehr glaubt". Mit diesem völlig verkehrt gepolten Misstrauensverhalten, das wahrlich den Namen "Hysterie" verdient, macht er die Berechnungen der Regierung zunichte, die mit ihren volksgesundheitlichen Korrekturmaßnahmen das aufgeregte Volk wieder beruhigen und dessen Verbrauchervertrauen wiedergewinnen will.

An der desaströsen Dimension des ökonomischen Einbruchs wird nicht nur der deutschen Regierung klar, welches Problem Europa auf den Nägeln brennt. Als wollten sie noch die letzten nicht vorhandenen Zweifler davon überzeugen, dass demokratische Politiker von Format sich am allerwenigsten vor einer Seuche fürchten, verkünden die Gestalter Europas ihre neue verbraucherorientierte Philosophie, die mehr "von der Ladentheke her" denkt. Ohne jede Scham erläutern sie den Massen, wie die Wahrnehmung politischer Charaktermasken funktioniert, in welcher Hinsicht sich also verantwortungsbewusste Standortbetreuer für die gesundheitlichen Ängste ihrer nationalen Verbraucher interessieren: Die sollen gefälligst wieder die Lust am Kaufen entwickeln und ihr Geld dorthin tragen, wo es dringend gebraucht wird.

Wegen der Dringlichkeit können die Standortbetreuer allerdings nicht warten, bis der Verbraucher ein Einsehen hat. Denn da gegen den Erreger medizinisch vorerst sowieso nichts auszurichten ist, muss der Markt mit den politischen Instrumenten bereinigt werden, die kapitalistische Nationen für die Ausgeburt von Vernunft halten: Mindestens 2 Millionen Rinder, so taxieren sie, sind in Europa "überflüssig", weil sie unverkäuflich sind. Also muss man sie, ob BSE-befallen oder nicht, in national definierten Kontingenten aus der Warenzirkulation nehmen und vernichten, um den Markt zu "entlasten".

Das wirft zwei Probleme auf: Wer soll das bezahlen? Und darf man das? Die finanzielle Frage wird im üblichen Verfahren erledigt, also zwischenstaatlich im Geschachere, welchen Anteil die Brüsseler Geldtöpfe übernehmen, und innerstaatlich im Streit zwischen Bund und Ländern. Die ethische Frage ist komplizierter. Tiere dürfen nämlich nach dem Gesetz nur "aus vernünftigen Gründen" getötet werden; weswegen der Tierschutz sich eine Klage vorbehält und mancher Marktphilosoph seine uralten Vorbehalte gegen die Brüsseler Subventionswut aus der Schublade holt. Letztlich sind sich dann aber doch alle einig, dass alle Ethik in der Vernunft des Marktes gründet.

*

Die Tatsache, dass die Aufregung des Verbrauchers einfach kein Ende nimmt, der Skandal also in der üblichen Art nicht zu deckeln ist, bringt die Nation zu der Einsicht, dass nur ein "Umbau der Landwirtschaft" weiterhelfen kann. Wie ernst es der Regierung damit ist, zeigt sie mit ihren Umbaumaßnahmen im Landwirtschaftsministerium, die den anfänglichen "Aktionismus" vergessen machen und – bereits einen Tag nach der "Kanzlerkrise" (Minister Nr. 7 und 8 verlassen das Kabinett) – ein "Konzept" erkennen lassen: Das Ministerium hat erstens einen neuen Namen – Verbraucherschutzministerium – und zweitens einen neuen Chef: eine Grüne, eine Frau und ein "Stadtkind", also die personifizierte Abkehr von der alten Politik des "Lobbyismus", die allen bisherigen Amtsträgern so agrartypisch ins Gesicht geschrieben war.

Mit diesem Kulturschock, den die "blondierte Juristin im Hosenanzug" bei ihrer agroindustriellen Klientel auslöst, hat der Umbau der Landwirtschaft schon seine halbe Wegstrecke hinter sich. Ihre erste Bewährungsprobe auf der "grünen Messe" meistert Frau Künast unter den Augen der kritischen Öffentlichkeit "mit Bravour", nötigt bereits auf dem Weg dorthin, im ICE, eine "misstrauische Bauernschaft zu warmem Applaus". Kaum eine Woche im Amt, hat sie gelernt, was eine kapitalistische "Überproduktion" ist, und ihre ethischen Bedenken gegen das marktbereinigende Massenschlachtungsprogramm zurückgestellt. Und noch eine Woche später verkündet die "smarte Powerfrau", worauf es jetzt ankommt: "Klasse statt Masse".

Der Kampf gegen die Prionen tritt also in eine neue Etappe – mit neuen Zielen und neuen Testmethoden, die den alten nicht ganz unähnlich sind. Der wissenschaftliche Ansatz steht im Kontext des Erfahrungshorizonts der europäischen Zivilisation, beherzigt also konsequent den Lehrsatz: "Helfen kann nur der Markt". Folglich weiß die grüne Verbraucherschützerin, dass Geld immer noch der beste Impfstoff gegen die Seuchen des Kapitalismus ist. Höhere Preise sind nämlich das Gütesiegel der "Klassewaren", die dann nicht nur eine profitsüchtige Ökowirtschaft gerne herausrückt, sofern der Kunde zahlt. Und damit ist der zweite Teil der Wegstrecke vorgezeichnet: Der ganze Umbau nützt nichts, wenn der Verbraucher nicht "mitzieht", also sein Geld nicht hergibt, was ab sofort mehr Geld heißt. Selbstverständlich ist das keine Absage an die "Billigproduktion".

Denn erstens bleibt der Weltmarkt der Maßstab, an dem sich die Rentabilität dieser Exportbranche orientiert; und zweitens sind die gesundheitsbewussten Standortbetreuer realistisch genug, um zu wissen, dass die Zahlungsfähigkeit des Normalverbrauchers auch in Zukunft "eine konventionelle Agrarwirtschaft" erfordert; dass "Klasse und Masse" sich ausschließen, versteht sich für sie von selbst. Eine kleine Modifikation muss der Kunde – im eigenen Interesse – allerdings hinnehmen. Dass weiterhin billig produziert wird, heißt nicht, dass die sozialismusverdächtigen Preise Bestand haben können. Im Namen der Gesundheit muss der letzte systemwidrige Virus in Europa ausgemerzt werden – der "Bratensozialismus", an den sich deutsche Proletarierhaushalte gewöhnt haben.

Für die ihnen auferlegte "Verantwortung", die Kosten für die Reduzierung von Seuchen- und Krankheitsrisiken zu übernehmen, welche die Rentabilität des Geschäfts gefährden würden, werden die Verbraucher freilich gebührend entschädigt: Mit einem neuen deutschen Reinheitsgebot für die Rinderbrauerei und mit "gläsernen Ställen", also der Versicherung des Staates, dass er in Sachen BSE zwar nichts garantieren, aber sehr viel "Transparenz" herstellen kann. Und das ist ja die Sicherheit, die der Verbraucher braucht: Woher kommt das Zeugs? Wer kontrolliert die Produktions- und Distributionswege?

Für Leute, die ihre Sicherheitsstandards aufgrund ihrer Zahlungsfähigkeit ein wenig höher hängen, soll das "Marktsegment der Premiumklasse" auf 10-20 Prozent ausgebaut werden. Mit ihrer Kaufkraft dürfen sie die Illusion der "Besserverdienenden" verwirklichen, dass wenigstens diejenigen, deren Einkommen es erlaubt, von den Wirkungen der proletarischen Vielfraßproduktion ausgenommen und verschont bleiben. Dann finden sie sich zumindest in einer besseren Risikoklasse wieder.

Also, passen Sie gut auf sich auf!

2.5 Der Nitrofen-Skandal:
Auch wo "Bio" draufsteht, ist Kapitalismus drin
(aus GS 2002-03)

I.

Wieder einmal macht die Agrarbranche Schlagzeilen. Nach Antibiotika in Shrimps, Salmonellen in Eiern, BSE im Rindfleisch, Maul- und Klauenseuche und Schweinepest sind diesmal Puten und Hähnchen dran. Sie sind mit dem krebserregenden Unkrautvernichtungsmittel Nitrofen verseucht. Auch nach der Seite des Grunds der Vergiftung sind keine Neuigkeiten zu vermelden. Weil in der Marktwirtschaft Lebensmittel Geschäftsmittel sind, haben alle an der Produktion Beteiligten sich um ordentliche Gewinne gekümmert und deswegen Kosten vermieden, die mit der Beseitigung des Gifts verbunden gewesen wären. Als gewissenhafte Kaufleute und Betriebsführer haben sie ihre Bilanzen ent- und dadurch die Gesundheit der Konsumenten belastet.

Eine "Norddeutsche Saat- und Pflanzengut AG" lagert Futtergetreide in einer Halle, in der die DDR Unkrautvernichtungsmittel eingelagert hatte. Sicher, jeder, der will, kann riechen und sehen ("klümpchengroße Nitrofenreste"), dass in der Lagerhalle chemische Produkte gebunkert waren. Aber die Firma will eben nicht so genau wissen, was da so streng riecht. Eine Untersuchung kostet ebenso Geld wie die anschließend eventuell notwendige Entgiftung. Auch die Anmietung einer anderen Halle wäre mit Umständlichkeiten und Kosten verbunden.

Das Futtergetreide wird von einem Großhändler aufgekauft, der einige Tonnen an einen Bio-Geflügelhof liefert, dessen Geflügel an einen Hersteller von Babynahrung geht. Der testet die eingehende Ware im firmeneigenen Labor, entdeckt das Gift, schickt die vergifteten Hühnchen an den Geflügelzüchter zurück und besteht auf nicht mehr und nicht weniger als Rückerstattung des Kaufpreises.

Sicher kommt auch dem Babynahrungshersteller und dem Geflügelhof der Verdacht, das bei ihnen gefundene Gift könnte noch weiter verbreitet auftreten. Aber die Sorge ums Geschäft gebietet allen Beteiligten, nicht Alarm zu schlagen und den Vorfall diskret abzuwickeln. Denn gerade in der Öko-Branche ist der gute Ruf als "sauberer" Erzeuger ein unerlässliches Geschäftsmittel, und der würde durch die Meldung des Giftfunds an die Aufsichtsbehörden leiden.

Daher wird ein "Kartell des Schweigens" gebildet, und zu regeln ist nur eines: der finanzielle Schaden. Der Geflügelhof wendet sich an seine Versicherung, die für den Schaden aufkommen soll. Weil die für den Schaden keinen außenstehenden Dritten haftbar machen kann – die Versicherung, der Geflügelhof, der Großhändler und die Saatgut und Pflanzen AG, alle Betriebe gehören zum selben Konzern, der Raiffeisengenossenschaft –, empfiehlt die Versicherung in einem Gutachten Schadensvermeidung: "das belastete Fleisch" könne "teils als konventionelle Ware, oder in der Verarbeitung zu anderen Putenfleischerzeugnissen eingesetzt werden" (SZ, 03.06.2002).

Der Verkauf vergifteter Lebensmittel kann also weitergehen, wenn man entweder die Kontrollen umgeht, indem man auf Sektoren ausweicht, in denen weniger kontrolliert wird, oder per Giftverdünnung dafür sorgt, dass die Belastung unter dem staatlich festgesetzten Grenzwert bleibt. So kann der Großhändler seinen vergifteten Weizen weiterverkaufen, bis das Lager geräumt ist, und man braucht sich nicht zu wundern, dass sich der "Skandal" nach der ersten Aufdeckung von Nitrofen täglich ausweitet. Zuerst findet man Nitrofen im Bio-Landbau, dann sind auch die Produkte der konventionellen Landwirtschaft betroffen: Geflügel, Schweine, Rinder und Brot, überall werden die Tester fündig.

Nichts Neues schließlich auch in der Technik der politischen Bewältigung der Affäre: Die zuständigen Aufsichtsbehörden, Landesminister und Bundesministerin an der Spitze, sind empört, diagnostizieren als Grund des Übels einmal mehr "unglaubliche Schlamperei", "unbegreifliche Verantwortungslosigkeit", sogar "kriminelle Energie" bei ehrbaren Agrarökonomen – und entschuldigen so, mit Hilfe der erbittert gestellten Schuldfrage und des Versprechens diesbezüglicher "lückenloser Aufklärung", das herrliche System der Gewinnerwirtschaftung, das den Nährwert von Lebensmitteln ausschließlich an der Spanne zwischen Gestehungskosten und Verkaufserlös misst und um der Vergrößerung dieser Spanne willen eine agrochemische und biotechnische Errungenschaft nach der anderen zum Einsatz bringt.

II.

Die Besonderheit dieses Mal: Der Skandal findet ausgerechnet in der Unterabteilung des Lebensmittelgewerbes statt – oder fängt zumindest da an –, in der nach dem großen Erschrecken über BSE-verseuchtes Rindfleisch die "Agrarwende" eingreifen und unter der Obhut einer grünen Verbraucherschützerin im Ministerrang alles anders werden sollte: Die Produkte der Bio-Branche, so das Versprechen, könnten bedenkenlos genossen werden; und davon käme in Zukunft mehr auf den Markt; freilich zu etwas angehobenen Preisen, die die Ware aber auch wert sein würde. Und nun die Blamage! Da kommt Schadenfreude auf. Die christlich-liberale Opposition und die Lobby der "konventionellen" Landwirtschaft sehen sich glänzend bestätigt – in ihrer Meinung, ein bisschen Gift im Futter wäre allemal im Preis mit drin, hätte im übrigen noch niemandem wirklich geschadet, würde nur von notorischen Miesmachern und Hysterikerinnen abgelehnt; und wenn jetzt bewiesen sei, dass Nahrung sowieso immer, auch unter rotgrüner Verwaltung, ein bisschen ekelerregend produziert und nie ganz ohne Gesundheitsgefahr verdaut wird, dann könne man doch auch gleich bei dem Warenangebot der herkömmlichen agroindustriellen Giftmischer bleiben... Und wo die Zyniker der marktwirtschaftlichen Esskultur Recht haben, da haben sie Recht – wenn auch aus etwas anderen als ihren Gründen:

– Die großartige rotgrüne "Agrarwende" steht von vornherein nicht für das Projekt, den Konsumenten fortan nur noch einwandfreies Zeug zur Ernährung anzubieten. Bescheiden und "realistisch" ist bloß an ein wenig mehr "Öko" im "Landbau" gedacht: an eine Steigerung des Marktanteils der "sauberen" Produkte von derzeit 3% auf irgendwann 20% – also bestenfalls an die Eröffnung einer gesünderen Alternative neben dem "konventionellen" Mist, den sich die große Masse weiterhin zumuten lassen darf.

– Und den sie sich auch zumuten lassen wird – warum, das deutet die Schützerin aller Verbraucher mit ihrer Parole "Klasse statt Masse" schon an und spricht es mit ihrer Rüge an die Adresse derer, die für wenig Geld gut essen wollen, deutlich aus: Die Öko-Branche soll sich mit ihren "Premium-Lebensmitteln" auf einem Hochpreissektor etablieren, neben der Billig-Abfütterung der Massen, die ihrem Budget keine Neuaufteilung zumuten können oder wollen. Auch in diesem Sektor der Warenwelt ist Klasse eben eine Klassenfrage der schlichtesten Art.

– Was wiederum überhaupt nicht bedeutet, dass hohe Preise und ein regierungsamtliches Öko-Siegel auch schon eine Garantie für Bekömmlichkeit wären. Am alles entscheidenden ökonomischen Prinzip der Nahrungsmittel-Produktion ändert die "ökologische Wende" nämlich überhaupt nichts: Auch teure Lebensmittel sind, bevor sie überhaupt auf den Tisch kommen, erst einmal und vor allem Geschäftsmittel; ihr eigentlicher Nähr- und Gebrauchswert liegt darin, dass sie einen Überschuss ihres Verkaufspreises über ihre Produktionskosten beinhalten; ihr biologischer Inhalt ist das bloße Vehikel dieser politökonomischen Zweckbestimmung und in seiner Machart und Zusammensetzung davon abhängig. Der Drang zur Kostpreissenkung mit all seinen ekelerregenden bis gesundheitsschädlichen Konsequenzen für Herstellungsverfahren und Produkt hört deswegen bei Gütern der gehobenen Preisklasse überhaupt nicht auf. Der Konkurrenzzwang, in diesem Sinn erfolgreich zu wirtschaften, nimmt im Gegenteil in dem Maße zu, wie gemäß ministerieller Wunschvorstellung immer mehr mit Öko-Plaketten ausgestattete Lebensmittel auf den Markt gebracht werden und um deren Absatz konkurriert wird.

– Zu den Grundregeln der Gewinnerwirtschaftung ist die ökologische Alternative also überhaupt keine Alternative. Deswegen schließt sie den Standpunkt geschäftlich skrupulöser, also in allen anderen Hinsichten bedenkenloser Berechnung nicht aus, sondern ein – dafür und für sonst gar nichts ist der erste brancheneigene Skandal der praktische Beleg. Er widerlegt ganz nebenher das beliebte und vom Künast-Ministerium heftig aufgewärmte Gerücht, es läge am mündigen Konsumenten und dessen Kaufverhalten, was er zu essen kriegt: Der Öko-Kunde ist genau so das alberne Anhängsel des marktwirtschaftlichen Produktionsprozesses, ist genau so bloßer Erfüllungsgehilfe fremder Gewinnrechnungen wie der sichtbar fehlernährte BigMac-Vertilger.

– Das wird von den politischen Anwälten des Verbraucherschutzes im Übrigen auch ganz nüchtern genau so einkalkuliert; mit all dem zynischen "Realismus", der den Berufsstand des Politikers überhaupt auszeichnet. Oder wie sonst wäre es zu verstehen, dass die "ökologische Wende" im Wesentlichen in enger gefassten Vorschriften über zulässige "Belastungen" in Nahrungsmitteln sowie dem in einem "Öko-Siegel" vergegenständlichten Versprechen besteht, auf die Einhaltung dieser Vorschriften aufzupassen und Verstöße mit Geldbußen zu ahnden? Wo strafbewehrte Kontrollen nötig sind, um für "Lebensmittelsicherheit" zu sorgen, da versteht es sich für alle Beteiligten, und für die Kontrolleure schon gleich, von selbst, dass sich in Sachen Unbedenklichkeit und Genießbarkeit der Produkte überhaupt nichts von selbst versteht – ausgenommen eben die ökonomische Rechnungsart, deren praktische Gültigkeit den gesundheitlichen Nährwert der produzierten Lebensmittel fortwährend in Frage stellt.

– Diese Rechnungsart darf daher durch restriktive ökologische Vorschriften und Kontrollen nicht bloß nicht durchkreuzt werden: Das ökonomische Kalkül, die Kunst des Gewinne-Machens, soll im Gegenteil von dem Öko-Label profitieren. Dessen eigentlicher und entscheidender Sinn und Zweck ist selber von ganz und gar marktwirtschaftlicher Art: Es soll gar nichts anderes als die Chance eröffnen, fürs Produkt mehr Geld zu verlangen und auch zu kriegen; im Konkurrenzkampf mit anderen einheimischen Anbietern, darüber hinaus aber durchaus auch auf dem gemeinsamen Euro-Markt. Die kontrollierte und besiegelte Öko-Qualität ist praktiziertes nationales Agrar-Marketing, nicht mehr und nicht weniger.

– Weil Verkaufsförderung der eigentliche Sinn und Zweck aller Qualitätskontrollen ist, darf daraus logischerweise keine Kostenbelastung erwachsen, die die Vermarktung der schönen Qualitätsprodukte durch unrentablen Aufwand gleich wieder erschwert. Das sieht wie ein Dilemma aus; die Lösung ist aber überraschend einfach: Am besten, man überlässt das Kontrollieren, in der Hauptsache wenigstens, den Verbänden der Öko-Produzenten selber. Die werden schon den passenden Weg finden, dass der Aufwand für Öko-Siegel-würdiges Produzieren und einwandfreie Kontrollergebnisse nicht aus dem Ruder läuft.

– Umso schlimmer andererseits, wenn dann doch eine größere Sauerei auffliegt. Das Geschäft ist dann zwar längst gemacht, das ungesunde Zeug im Übrigen auch meistens längst verdaut, am Verbraucher also ohnehin nichts mehr zu schützen. Der ganze Sinn des regierungsamtlichen Verbraucherschutzes jedoch: der Wettbewerbsvorteil in der Konkurrenz der Volksernährer, ist in Gefahr. Die Extraportion Zahlungsbereitschaft, die vermittels der Güte-Garantie "Bio aus Deutschland" mobilisiert werden soll, steht auf dem Spiel; der Öko-Markt wird geschädigt, bricht womöglich gar zusammen, wenn es nicht gelingt, das Verbrauchervertrauen wiederzugewinnen!

– Womit schließlich auch schon die Aufgabe der zuständigen Ministerin beschrieben wäre: Als oberster nationaler Verbraucherschützerin obliegt ihr der Schutz des Vertrauens der Verbraucher – vulgär ausgedrückt: ihrer Zahlungsbereitschaft. Und den Job erledigt sie dann auch – mit ehrlicher Erbitterung über "kriminelle Elemente" im Agro-Business, mit demonstrativem Aufdeckungseifer und mit viel Engagement bei der Verfolgung "schwarzer Schafe". So kämpft sie für die "Agrarwende": für die Rettung der Vermarktungsstrategie "Öko-Klasse statt Masse", die sie doch schon so vielversprechend auf den Weg gebracht hatte, dass sogar manch reaktionärer Bauernlobbyist hellhörig geworden ist...

III.

Derweil ist die Kundschaft, glaubt man dem ideellen Gesamt-Lebensmittelkunden von der Süddeutschen Zeitung, in der Vertrauensfrage schon einen ganzen Schritt weiter. Die erwartet sich nämlich vom Öko-Landbau ohnehin nicht die Garantie, einwandfrei sauber ernährt zu werden, sondern bloß das, was da wirklich bloß geboten wird: den Luxus einer eventuell etwas weniger vergifteten und weniger ekelhaften Essware, den man sich gelegentlich gönnt. Dieses kleine Vergnügen mit der total unrealistischen Verheißung einer gift- und skandalfreien Lebensmittelversorgung zu befrachten, macht sich überhaupt nicht gut und ist gar nicht zweckmäßig für ein erfolgreiches Marketing:

"Im Grunde kann es der Marke 'Öko' nur gut tun, wenn sie jetzt entzaubert wird. Man kann die Welt nicht mit Öko-Landbau retten, ökonomische ebenso wie ökologische Hindernisse stehen einer Total-Umstellung der Landwirtschaft auf Bio-Standards entgegen. ... Auch Biobauern müssen sich in die arbeitsteilige Wirtschaft einfügen und ihre Kosten hart kalkulieren – die erfolgreichen tun dies längst. ... Die meisten Biohöfe arbeiten energie- und umweltschonender als ihre Nachbarn und liefern in aller Regel gesunde Lebensmittel – auch wenn es gelegentlich zu Skandalen kommt wie bei der konventionellen Konkurrenz." (SZ, 12.6.2002)

Eine schöne Dialektik: Mit dem Vorteil von Öko-Ware wirbt man am besten, wenn man es mit ihrer Extravaganz nicht übertreibt. Wenn ein nachgewiesener Gift-Skandal belegt, wie wenig das hochgelobte Zeug vom Normalfall marktwirtschaftlicher Ernährung letztlich doch bloß abweicht, dann eröffnet sich genau damit die Chance, Öko-Produkte als festen Sonderbestandteil der normalen marktwirtschaftlichen Volksfütterung zu etablieren. Schlangenfraß allemal, aber nicht immer derselbe; hin und wieder – man gönnt sich ja sonst nichts – kommt die Luxus-Variante auf den Tisch: Das ist sie dann, die rotgrüne Agrarwende.

2.6 Was das "Gammelfleisch" lehrt:
Der Lohn von Otto Normalverbraucher reicht einfach nicht für ein ordentliches Leben
(aus: GS 2006-01)

"Gammelfleisch" ist überall

Ende November waren etliche Verlautbarungen der folgenden Art dazu angetan, die Bürger prima auf das Weihnachtsfest einzustimmen:

"Verdorbenes Hackfleisch, stinkende Döner, schlieriges Roastbeef, angegammeltes Putenhack, Abfälle aus der Geflügelzucht – die Meldungen über das, was die Deutschen nichts ahnend Tag für Tag verspeisen, wurden immer ekliger. Tonnenweise hatten dubiose Firmen Gammelfleisch über die Republik verteilt", fasste der Spiegel vom 28.11.2005 zusammen.

Und dem "Freitag" war zu entnehmen: "Der Umgang mit abgelaufenen Fleischprodukten ist weder einer einzelnen Supermarktkette noch einem einzelnen Großhändler oder Hersteller zuzuordnen. Die Spuren führen quer durch die Republik. ... Die Fleisch-Mafia ist überall. Selbst Ökofleisch soll betroffen sein." (Freitag, 09.12.2005)

Auch die neuerdings so gelobte Zertifizierung, die den Kunden einen zuverlässigen Qualitätsmaßstab an die Hand geben soll, hat ihnen nichts genützt: "Sowohl die Einzelhandelskette Real als auch der Fleischhändler Thomsen in Kiel, die verdorbenes Fleisch umetikettiert und angeboten haben sollen, waren QS-zertifiziert." (Die Zeit, 91.12.2005)

Erklärtermaßen sind also nicht nur einzelne "gewissenlose Betrüger" am Werk, die auf Kosten von Geschmacksnerven und Gesundheit der Verbraucher ihr Geschäft machen. "Gammelfleisch" ist vielmehr ein ziemlich ubiquitäres Phänomen. Mit dieser schonungslosen Offenlegung werden die LeserInnen allerdings nicht alleine gelassen. Eine fach- und sachkundige Öffentlichkeit erklärt ihnen nämlich gleich auf mehreren Ebenen, warum sie sich nicht zu wundern brauchen.

1. Die Marktwirtschaft bringt fast zwangsläufig "Gammelfleisch" hervor

"Die Gefahr krimineller Machenschaften wächst, seit Anbieter aus Osteuropa mit Billigprodukten auf den Markt drängen und deutsche Qualitätsware keine Abnehmer mehr findet. Um nicht auch noch für die Vernichtung des Fleisches bezahlen zu müssen, wird es auf der 'Resterampe' oder dem 'Drei-Tage-Markt', wie es in der Branche heißt, zum Sonderpreis verkauft. Die Käufer lagern die Ware tiefgefroren ein, um sie später umverpackt und umetikettiert mit einem Preisaufschlag auf den Markt zu bringen. Ein lohnendes Geschäft." (SZ, 24.11.2005)

"Die Schlachtereien aber müssen aus Kostengründen die Tierkörper fast zu 100 Prozent verwerten. Nur lassen sich viele Tierteile schwer vermarkten. 'Das ist die logische Konsequenz des Preiskampfes', sagt Martin Fuchs, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Fleischerverbands, 'die Margen sind so gering, dass es nicht mehr drin ist, Ware einfach wegzuschmeißen.' Also gibt es Spezialfirmen, die mit allem handeln, was so liegen bleibt." (Spiegel, 28.11.2005)

"Die Verlockung, Schlachtabfälle oder Fleisch jenseits des Verfallsdatums zu verwerten, ist obendrein durch den wachsenden Wettbewerb in der Branche gestiegen. Seit etwa vier Jahren bieten auch Discounter Frischfleisch an, was die gesamte Branche unter Druck gesetzt und einen beispiellosen Konzentrationsprozess ausgelöst hat, der noch nicht abgeschlossen ist. Maximal fünf Unternehmen würden in Zukunft noch eine wirklich bedeutende Rolle spielen. ... Dies setze den kleineren Fleischverarbeitern zu – und habe manche von ihnen in die Illegalität getrieben." (ebd.)

Von lauter Zwängen der Konkurrenz sind sie also bedrängt, unsere eigentlich grundsoliden, hart arbeitenden Schlachthöfe und Fleischverarbeiter: Im Osten drohen erstens Billigheimer, gegen deren Ramsch- sie mit ihrer Qualitätsware made in Germany keine Chance haben. Da muss man sich nicht wundern, dass sie aus lauter Verzweiflung zu den bekannt ekelhaften Methoden greifen. Aber auch ihre beinharte Konkurrenz gegeneinander lässt zweitens unseren guten deutschen Schlachthöfen keine andere Wahl, als sich jener Abnehmer zu bedienen, die bei allem Haut-gout, der ihnen wie ihrer Ware anhängt, immerhin dafür sorgen, dass nichts "liegen bleibt", die insofern also auch den guten Dienst leisten, noch den unappetitlichsten Abfall seiner wahren marktwirtschaftlichen Bestimmung zuführen – dass mit ihm ein Geschäft gemacht wird. Drittens droht auch auf diesem Markt den Kleinen der Verlust ihrer betrieblichen Existenz durch die Übermacht der Großen. Was Wunder also, dass David im Kampf gegen Goliath der "Verlockung" erliegt, sich auch einmal unsauberer Methoden zu bedienen! Eine Versuchung, die im Übrigen nicht nur der Zwang hervorruft, auch noch unter den bekannt widrigen Umständen auf jeden Fall ein Profitchen erwirtschaften zu müssen, sondern auch das gerade Gegenteil. Nämlich die Gelegenheiten, die dieser Markt bietet, wenn man nicht immer mit dem Lebensmittelgesetz unter dem Arm herumläuft:

"Die Möglichkeiten, Schlachtabfälle als lebensmitteltauglich zu deklarieren, sind riesig. Es locken Gewinnspannen von 300 Prozent. Auch beim Tiermehl, das nicht an landwirtschaftliche Nutztiere verfüttert werden darf, ist Betrug lukrativ. Dieser Dünger ist hochproteinhaltigem Futter gleichwertig, das das Zehnfache kostet." (T. Bode, Spiegel, 12.12.2005)

Dergestalt wird das lesende Publikum von seriösen Journalisten und Experten, die ansonsten auf die Marktwirtschaft als das beste aller (Wirtschafts-) Systeme nichts kommen lassen, ausführlich darüber aufgeklärt, dass diese einerseits eine Art Zwangsveranstaltung zur Produktion von Unappetitlichem, andererseits ein Reich der fast unbegrenzten Möglichkeiten ist, auf schmutzige Art und Weise ein Riesengeschäft zu machen. Der Sache nach ein vernichtendes Urteil, aus dem allerdings rein gar nichts in Bezug auf die inkriminierte Sache folgt. Und es kommen auch keinerlei Zweifel an dem von derselben Öffentlichkeit bis zum Erbrechen verkündeten Mantra von den segensreichen Wirkungen auf, welche die Konkurrenz allüberall entfalten würde, wenn man, i.e. Staat und Gewerkschaften, sie nur ließe. Mit einem dialektischen Fingerspitzengefühl, dessen Feinsinnigkeit seinesgleichen sucht, trennen Journalisten vielmehr den Umgang mit Gammelfleisch, für den sie eben noch die "Verlockungen" wie die Zwänge der Marktwirtschaft als lauter Notwendigkeiten ins Feld geführt haben, welche die Umgehung der bestehenden Vorschriften ziemlich nahe legen, wenn nicht gebieten, von seinen unappetitlichen bis gesundheitsschädigenden Wirkungen. Die sollen mit der Wirtschaftsweise, welche sie hervorbringt, jetzt auf einmal rein gar nichts mehr zu tun haben.

Die "Riesensauerei", da schließt sich die Öffentlichkeit vorbehaltlos dem Verdikt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten an, ist vielmehr das Werk krimineller Elemente, die dergestalt gegen den eigentlichen, guten Auftrag unserer selbstverständlich über jeden Zweifel erhabenen Marktwirtschaft verstoßen, die Konsumenten stets mit dem Bestmöglichen zu versorgen. Also ist der Staat mit seinem Recht und den einschlägigen Kontrollen gefragt. Was sie ansonsten als Sünde wider jegliche "marktwirtschaftliche Vernunft" geißelt, kommt der Öffentlichkeit jetzt nicht nur gerade recht. Es muss geradezu sein: Der Staat soll’s richten! Aber auch bei ihm muss man sich nicht wundern. Denn

2. Auch der Staat kann nicht so, wie er sollte

Einerseits belehrt der Ruf nach dem Staat uns darüber, dass die journalistischen Experten mit dem Fortgang der inkriminierten Geschäftspraktiken rechnen, womit sie ein weiteres Mal bestätigen, dass diese einfach zu unserer schönen Marktwirtschaft dazugehören. Andererseits liegt die kritische Frage nahe, weshalb "die Verantwortlichen" es überhaupt so weit kommen ließen. Und da ist guter Rat billig. Jetzt wissen nämlich auf einmal alle, die vorher in ihren Leitartikeln "die Verschlankung der Verwaltung" als oberste Staatsaufgabe angemahnt haben, dass dabei einen Fehler gemacht worden sein muss:

"Mehr Geld zum Beispiel für mehr Kontrolleure wollen die meisten Länder nicht ausgeben, manche, wie Bayern, haben in diesem Bereich Personal abgebaut." (SZ, 09.12.2005)

Und wo das Gammelfleisch zum Himmel stinkt, da lassen sich auch noch andere himmelschreiende Fehler der Politik ausmachen: So ist das zuständige Ministerium

"eine Fehlkonstruktion, ... eine reine Lobby-Einrichtung von Agrarwirtschaft und Lebensmittelindustrie. ... Man kann nicht die Interessen von Verbrauchern und Agrarlobby gleichzeitig vertreten. Die sind oftmals gegenläufig." (T. Bode, Spiegel, 12.12.2005)

Wären die beiden Abteilungen in unterschiedlichen Händen, hätte Herr Bode wahrscheinlich "Kommunikationsmängel zwischen zwei Ressorts, die auf enge Zusammenarbeit angewiesen sind", für das Gammelfleisch verantwortlich gemacht. Durch die aktuelle Ressorteinteilung aber ist bzw. wird der Staat hin und hergerissen, weil er es immer allen gleichzeitig Recht machen will. Er ist quasi institutionell unfähig, entschlossen gegen die Fleischmafia vorzugehen, was Herrn Bode andererseits nicht daran hindert, sich von einer "harten Bestrafung der Unternehmen" (ebd.) eine grundlegende Besserung zu versprechen. Allerdings ist das "staatliche Versagen" nicht nur auf gewissermaßen strukturelle Mängel zurückzuführen. Denn so einig sich alle Kommentatoren und das politische Personal in der Forderung nach besseren und schärferen Kontrollen im Prinzip sind, so 'realistisch' wird deren Umsetzbarkeit beurteilt:

"Um die Kontrollen tatsächlich wirksamer zu machen, müssten sie vielmehr einer neuen Logik gehorchen: Zurzeit kontrollieren nämlich ausgerechnet die kommunalen Veterinäruntersuchungsämter die Schlachthöfe. Interessenkollisionen sind da programmiert. Ein Kreisveterinär, der den möglicherweise größten Gewerbesteuerzahler seiner Gemeinde genauer als üblich inspiziert, muss jedenfalls ein mutiger Mensch sein." (Die Zeit, 01.12.2005)

Also gebietet die aktuell herrschende "Logik", über deren Inhalt sich der Kommentar nicht weiter auslässt, weil er sie anscheinend als allgemein bekannt voraussetzt, nicht so genau hinzuschauen. Jedenfalls wenn das Mitglied der "Fleischmafia" gleichzeitig der wichtigste Steuerzahler ist, also nicht nur nach inoffiziellen Maßstäben zur "Ehrenwerten Gesellschaft" gehört.

Das eröffnet einen Blick auf die Komplexität des Problems, nämlich das Dilemma, in dem die öffentliche Gewalt sich befindet. Ihre "Logik" gebietet es eben, auf ihre Einnahmen zu achten. Geld stinkt schließlich nicht, auch wenn es mit Hilfe stinkender Fleischabfälle verdient wurde. Auch diese offenherzige Auskunft über das systemgemäße Zusammenspiel von Staat und – schmutzigem – Geschäft wird zu einem einzigen Entlastungsargument. Irgendwo muss der Staat schließlich sein Geld für seine vielen Aufgaben herkriegen. Deshalb kann er auch nicht einfach vor bzw. in jeden Schlachthof einen Aufpasser stellen, so wünschenswert es wäre. Also stecken nicht nur die Fleisch verarbeitenden Betriebe in der Zwickmühle zwischen notwendigem Gewinnstreben und den einschlägigen Vorschriften. Auch der, welcher diese durchzusetzen befugt ist, kann keineswegs so, wie er sollte.

Deshalb müssen wir als Verbraucher uns auch nicht über die fehlenden effektiven Kontrollen wundern, sondern an die eigenen Nase fassen. Denn schließlich gilt:

3. Der knausrige Konsument bekommt, was er verdient

Die tiefe Erkenntnis des neuen Ministers für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat der Öffentlichkeit sofort eingeleuchtet. Seehofer im Original: "Die Geiz-ist-geil-Mentalität ist gerade bei Lebensmitteln hochgefährlich. Qualitativ hochwertige Lebensmittel haben ihren Preis!" (Bild, 1.12.) Als habe sie nur auf ein Signal gewartet, um von der langweiligen, weil aus besagten Gründen fruchtlosen Diskussion über die Notwendigkeit verschärfter Kontrollen weg- und auf das eigentlich interessante Thema zu kommen. Exemplarisch dafür die folgende Volte:

"Doch verwundert fragt sich der Verbraucher: Warum sind nach den zahlreichen Ekel erregenden Lebensmittelskandalen der letzten 20 Jahre nicht längst hinreichend erfolgreiche Kontrollen aufgebaut worden? Weil dem Lebensmittelhandel im allgemeinen zu viel blindes Vertrauen entgegengebracht wurde und sich niemand so recht eine solche Dimension des Verbraucherbetrugs vorstellen wollte? Oder weil eine tranige Verwaltung ihrer Überwachungsaufgabe ungenügend nachgekommen ist?"

Derlei gewichtige Fragen wirft die Kölnische Rundschau vom 30.11.2005 auf, um bruchlos zu "antworten":

"Allerdings hat dies auch eine Menge mit der um sich greifenden 'Geiz-ist-geil'-Mentalität zu tun. Zwar sollen nun nicht die 'Opfer' des Fleischskandals zu Tätern stilisiert werden. (Die Anführungszeichen verraten schon, dass genau das passieren wird.) Doch lohnt es schon das Nachdenken, wie Bauern, Schlachter und Händler noch Geld verdienen sollen, wenn Käufer vor allem Schnäppchen jagen. Qualität hat auch ihren Preis. Die 1000-Gramm-Ente für 1,99 Euro kann der seriöse Metzgerladen um die Ecke jedenfalls nicht anbieten."

Nicht nur die Zeitung der Stadt des Karnevals sieht die Sache so. Die WDR-Talkshow "Hart, aber fair" widmet ihre Sendung am 07.12.2005 dem Thema: "Gammelfleisch zum Schnäppchenpreis: Kriegen wir den Geizhals nicht voll?" Laut FAZ befinden sich "die Händler in verzweifelter Abwehrschlacht gegen die Verführungen einer 'Geiz ist geil'-Mentalität." (FAZ.net, 09.12.2005) Selbst der linke "Freitag" meint: "Der Verweis auf den Geiz ist nicht falsch." (Freitag, 09.12.2005)

König Kunde ist also das Zugpferd in dem marktwirtschaftlichen Dreigespann aus Fleisch-Produzenten bzw. –händlern, Staat und seiner Majestät. Er steckt als einziger in keinem Dilemma. Vielmehr zwingt sein Sparsamkeitswahn die Produzenten, ihn mit billigem Fleisch zu versorgen. Er ist also letztlich für seinen eigenen Schaden verantwortlich. Anstatt mit seiner "Geiz ist geil"-Parole die Geschäfte zu stürmen und damit Produzenten und Händler unter Druck zu setzen, sollte er, im Interesse aller Beteiligten, lieber mehr Geld ausgeben, dann bekäme er auch die entsprechend bessere Qualität.

Dabei ist der handfeste Schaden, welchen der Kunde angeblich auf Grund seines Geizes erleidet, ein einziges Dementi der Vorstellung, er sei der eigentliche Herr der Marktwirtschaft. Die Alternative "Billig, aber schlecht" versus "Teuer, aber gut" hat schließlich nicht er sich ausgedacht. Wenn es nach ihm ginge, um diesen in der Wirklichkeit der Marktwirtschaft eher unmaßgeblichen Standpunkt einzunehmen, sollte ja wohl möglichst alles billig und gut sein. Aber "das geht ja" bekanntlich "nicht". Und zwar weil sich von vorn bis hinten alles nach den geschäftlichen Kalkulationen der Anbieter zu richten hat. Die entscheiden nach Maßgabe ihrer Durchsetzung auf dem Markt erstens darüber, was überhaupt auf selbigen gelangt, zweitens in welcher Qualität und drittens zu welchem Preis.

Dabei machen sie sich wechselseitig kräftig Konkurrenz. Eine Veranstaltung, die im Übrigen gänzlich überflüssig wäre, wäre der Kunde tatsächlich König. Weil er aber so ziemlich das Gegenteil ist, nämlich ein Mensch mit einem in den meisten Fällen sehr beschränkten Budget, und das wissen die unverschämten Moralisten in den Redaktionen auch ganz genau, gibt es die einschlägigen Angebote für jedes Marktsegment. Also für die Armen Billigstprodukte, deren Produktion sich dank Masse auch bei relativ kleiner Gewinnspanne lohnt. Schließlich soll ja auch noch der letzte Cent die Kassen der Anbieter füllen, die ihrerseits gleichzeitig mit der Lüge werben, teure Produkte garantierten Qualität. Inmitten derartiger Angebote darf der Kunde dann seinen Geschmack zur Geltung bringen und auswählen. Dabei ist er tatsächlich so frei, sich auch einmal etwas Teureres zu leisten – wenn er sich an anderer Stelle entsprechend einschränkt. An diese sehr relative Freiheit des Konsumenten wird anlässlich des "Gammelfleischs" wieder einmal appelliert. Seine Beschränkung wird ignoriert bzw. der Umgang damit als Ausdruck einer falschen Einstellung kritisiert. Weil er immerzu die falschen Prioritäten setzt, braucht er sich ein letztes Mal nicht zu wundern, sondern soll sich ein Beispiel an den Italienern nehmen:

"Nach einer Untersuchung der Gesellschaft für Konsumforschung ist für 62 Prozent der Deutschen der Preis wichtiger als die Qualität. Ganz anders etwa die Italiener: Zwei Drittel von ihnen halten Qualität für das Wichtigste beim Kauf von Lebensmitteln." (Spiegel, 28.11.2005)

Womit diese einzig senkrechte Einstellung belohnt wird, ist einer Meldung zu entnehmen, wonach 58.000 t Mehl, die mit einem krebserzeugenden Gift verseucht waren, im Mutterland von Pasta und Pizza einschlägig verarbeitet wurden. (Guardian Weekly, 20, 26.1.2006)

Was momentan für Fleisch gilt, gilt bei anderer Gelegenheit für andere Produkte. Jeder "Skandal", der die Mangelhaftigkeit bis Schädlichkeit eines Gebrauchsguts aufdeckt, ist Anlass für die öffentliche Rüge, dass die deutschen Konsumenten wieder einmal an der falschen Stelle sparen. Also haben sie auf alles mögliche Andere oder, so die Alternative, die ihnen aktuell angeboten wird, auf Fleisch ganz zu verzichten. Dauernd ist die Kunst des – richtigen – Einteilens gefordert. Auch so kann man ausdrücken, dass für einen durchschnittlichen Arbeitslohn ordentliche Gebrauchsgüter nicht zu haben sind.

3. Quellenangaben:

Die hier abgedruckten Artikel sind den Zeitschriften "GegenStandpunkt" (GS) beziehungsweise "MSZ - Gegen die Kosten der Freiheit" (MSZ) entnommen, und zwar den folgenden Ausgaben:

1.1 "Konsumentenmacht": GS 2010-02
1.2 "Taste the Waste": GS 2012-01
1.3 "Fair Trade": GS 2013-03
2.1 "Östrogenskandal eingefroren": MSZ 1980-06
2.2 "Kalbfleisch und andere Genüsse": MSZ 1988-09
2.3 "Dioxin-Skandal in Belgien": GS 1999-03
2.4 "BSE - Futtermittelversorgung im Kapitalismus": GS 2001-01
2.5 "Bio-Branche: Der Nitrofen-Skandal" GS 2002-03
2.6 "Was das 'Gammelfleisch' lehrt" GS 2006-01